Von der Kraft freier Verhältnissetzungen
Ihrer Anlage nach erscheint Anthroposophie als ein geistig-kulturelles Ferment, das konsequent auf die autonome Persönlichkeit baut. Als spirituelles Movens ruft sie deren Entwicklung zur Verantwortungsbereitschaft auf - ebenso für sich selbst wie für die Welt und den Mitmenschen. Sie erweist sich weder als System noch als Programm, insofern sie ihrem Wesen entsprechend von der je individuellen Kraft freier Verhältnissetzung aus
geht. Ihre Geschichte im 20. Jahrhundert zeigt die Fruchtbarkeit ihrer Praxis in zunehmendem Maße abhängig von dieser Kraft selbstverantwortlicher Verhältnissetzung: von der Art, wie sich jeder Einzelne zu Anthroposophie in ein Verhältnis setzt; von der Art, wie sich jeder Einzelne durch sie dazu motivieren läßt, zu sich selbst, zur Welt und zum Mitmenschen immer erneut ein angemessenes Verhältnis zu suchen.
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«Ja, wir sind selbst die Gegenwart, wir sind das Schicksal und wir werden Geschichte sein.»
«Rede über das Jahrhundert», gehalten im Mai 1995 am Hamburger lnstitut für Sozialforschung, in: Imre Kertész, Eine Gedankenlänge Stille, während das Erschießungskommando neu lädt, Essays, Reinbek 1999, S. 22.
Unbestechliches Vertrauen in die lebendige Kraft der Idee
Anthroposophie
Mit dem 21. Jahrhundert haben Religion und kulturelle Tradition ihre Aufgabe, dem Leben Sinn und Orientierung zu verleihen, an den einzelnen Menschen übergeben.Wir Menschen sind damit in vollem Umfang unserer Existenz bei uns selbst angekommen. Die Grösse und Herausforderung unserer Zeit besteht darin, dass nun jeder Mensch vor der Aufgabe steht, sich selbst Leitlinien für sein Handeln und Denken zu geben, will er sich in den Angeboten der materiellen Welt nicht verlieren.
Dabei bricht häufig das Bedürfnis auf, ein bewusstes Verhältnis zur geistigen Welt zu gewinnen. Eine Erkenntnisart zu entwickeln, durch die die Wirklichkeit einer geistigen Welt konkreter erfahren werden kann und die in ihrer inneren Gediegenheit der Naturwissenschaft verwandt ist – das war die Lebensleistung Rudolf Steiners.
Diese Anthroposophie (Bewusstsein des Menschentums) kann nicht nur dem einzelnen Menschen Orientierung geben, sondern bringt Impulse für alle Gebiete der Kultur. Sie hat vielen bedeutenden Persönlichkeiten ermöglicht, ihren Kulturleistungen und Ideen neue Horizonte zu eröffnen. Die aus der Anthroposophie hervorgehenden Leistungen auf den Gebieten von Pädagogik, Medizin, Landbau und Architektur finden weltweite Beachtung. Dies gilt vor allem seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, als spirituelles Gedankengut in der Öffentlichkeit zusehends zur Selbstverständlichkeit wurde. Die über 10.000 anthroposophischen Einrichtungen wie Kliniken, Schulen, Höfe und Heime finden in allen Erdteilen Anerkennung. Kulturinitiativen in sozialen Brennpunkten wie Südafrika, Südamerika oder im Mittleren Osten entstehen, und die Verleihung des alternativen Nobelpreises an zwei anthroposophische Kulturträger zollte dieser Tatsache unerwarteten Respekt. Die Anthroposophische Gesellschaft bietet weltweit Raum und Gelegenheit für spirituelle Entwicklung, künstlerische Entfaltung und zivilgesellschaftliches Engagement.
«Unter Anthroposophie verstehe ich eine wissenschaftliche Erforschung der geistigen Welt, welche die Einseitigkeiten einer blossen Naturerkenntnis ebenso wie diejenigen der gewöhnlichen Mystik durchschaut und die, bevor sie den Versuch macht, in die übersinnliche Welt einzudringen, in der erkennenden Seele erst die im gewöhnlichen Bewusstsein und in der gewöhnlichen Wissenschaft noch nicht tätigen Kräfte entwickelt, welche ein solches Eindringen ermöglichen.»
Rudolf Steiner
(Rudolf Steiner Gesamtausgabe, GA 35)
Zukunftsprozess
«In der Zukunft wird es so sein, daß alle Aufgaben, die der Einzelne hat, Aufgaben der Gemeinschaft sein werden, und daß jeder die Aufgaben der Gemeinschaft zu seinen eigenen machen muß. Aber so etwas kann man nicht organisieren, sondern nur assoziieren.»
Rudolf Steiner, in einer Fragenbeantwortung während der Freien Antbroposophischen Hochschulkurse in Stuttgart am 20. März 1921, GA 217a
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Zur Zukunft der Anthroposophischen Gesellschaft
Gespräche mit:
Friedrich Glasl, Monika Elbert, Gottfried Stockmar, Mechtild Oltmann-Wendenburg, Thomas Kracht, Dirk Kruse,Petra Kühne, Johannes Kiersch, Rudolf Gädeke, Franziska Bücklers, Johannes Greiner, Wolfgang Gutberlet, Sebastian Boegner, Lydia Fechner, Claudia Grah-Wittich, Hanjo Achatzi
Zur Zukunft der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland
(Zusammenfassung aus den Protokollen der Zukunftskonferenz vom 6. November 2016 in Kassel)