«Anthroposophie wird sicher nicht aus der Welt geschafft.[n ... Wenn wir dieses Suchen nach dem inneren Zentrum unseres Wesens mit dem in dem anthroposophischen Weisheitsgut enthaltenen Geiste tun, dann finden wir auch den anthroposophischen Impuls, den die Anthroposophische Gesellschaft als ihre Lebensbedingung braucht.»
(aus Rudolf Steiner: Geschichte und Bedingungen der anthroposophischen Gesellschaft, Dornach 17. Juni 1923/ GA 258)
Entwicklung 1912 bis 1922
Bau des 1. Goetheanum

Während der jährlich stattfindenden Sommerfestspiele in München 1910–1913 wurden die „Mysteriendramen“ Rudolf Steiners aufgeführt. Dabei trat die neu entstehende Bewegungs- und Bühnenkunst Eurythmie in der Darstellung geistiger Vorgänge erstmals in Erscheinung.
Im Dezember 1912 wurde die Anthroposophische Gesellschaft in Köln gegründet, die etwa 3.000 Mitglieder umfasste. Marie von Sivers, Michael Bauer und Carl Unger bildeten den Vorstand. Rudolf Steiner wirkte als Berater und Vortragender. Der überkonfessionell christliche Charakter der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft führte zur Trennung von der Theosophischen Gesellschaft. (siehe auch: Gründungsgeschichte der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft)
Seit September 1913 und während des Ersten Weltkrieges wurde, unter Mitarbeit von Helfern und Künstlern aus allen europäischen Ländern, das Goetheanum in Dornach bei Basel als internationales Zentrum anthroposophischer Arbeit und Aufführungsort für die Mysteriendramen gebaut. Während der Bauzeit entstanden um das Goetheanum herum wissenschaftliche und künstlerische Einrichtungen sowie architektonische Entwürfe zu Wohn- und Zweckbauten. Marie Steiner inszenierte Szenen aus Goethes „Faust“ und die Eurythmie wurde weiterentwickelt. Die Anthroposophie wurde durch das Goetheanum für eine breitere Öffentlichkeit sichtbar.
In der Nachkriegszeit engagierten sich Rudolf Steiner und einige seiner Mitarbeiter mit der Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus für eine neue Gesellschaftsordnung. Im April 1919 bat Emil Molt Rudolf Steiner, die Leitung einer Schule für die Kinder der Arbeiter seiner Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik zu übernehmen. Im September wurde daraufhin die erste Waldorfschule in Stuttgart eröffnet. Anschliessend wurde Rudolf Steiner als Vortragsredner für pädagogische Kurse in der Schweiz, nach England und Holland eingeladen. Weitere Schulgründungen folgten.
Auf Anregung u. a. von Oskar Schmiedel und Ita Wegman hielt Rudolf Steiner Vorträge zur geisteswissenschaftlichen Erweiterung der Medizin. Von 1921 an entstanden anthroposophisch orientierte Kliniken und pharmazeutische Produkte.
In ‚Hochschulkursen’ in verschiedenen europäischen Ländern wurden die Praxis und die wissenschaftliche Orientierung der Anthroposophie vorgestellt. Die von einer Konzertagentur organisierten Vortragsreisen Rudolf Steiners fanden breite Resonanz in der Öffentlichkeit. Die bis heute erscheinenden Kulturzeitschriften „Das Goetheanum“ und „Die Drei“ wurden gegründet. 1922 fand in Wien der internationale West-Ost-Kongress statt. Die Initiative von Theologen, Pfarrern und Theologiestudenten führte einen Menschenkreis um Friedrich Rittelmeyer 1922 zur Gründung der Christengemeinschaft als Bewegung für religiöse Erneuerung.
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Entwurf der Grundsätze einer Anthroposophischen Gesellschaft von 1912
Zu einer befriedigenden und gesunden Lebensgestaltung bedarf die Menschennatur der Erkenntnis und Pflege ihrer eigenen übersinnlichen Wesenheit und der übersinnlichen Wesenheit der aussermenschlichen Welt. … Wahre Geistesforschung und die aus ihr folgende Gesinnung soll der Gesellschaft ihren Charakter geben:
1. Es können in der Gesellschaft alle diejenigen Menschen brüderlich zusammenwirken, welche als Grundlage eines liebevollen Zusammenwirkens ein gemeinsames Geistiges in allen Menschenseelen betrachten, wie auch diese verschieden sein mögen in bezug auf Glauben, Nation, Stand, Geschlecht usw.
2. Es soll die Erforschung des in allem Sinnlichen verborgenen Übersinnlichen gefördert und der Verbreitung echter Geisteswissenschaft gedient werden.
3. Es soll die Erkenntnis des Wahrheitskernes in den verschiedenen Weltanschauungen der Völker und Zeiten gepflegt werden
(aus: Entwurf der Grundsätze einer Anthroposophischen Gesellschaft 1912)
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In der gärenden Nachkriegszeit versuchten Steiner und einige Mitarbeiter mit Anregungen zur Sozialgestaltung („Dreigliederung des sozialen Organismus“) darauf hinzuwirken, dass das Konzept des Einheitsstaates zugunsten gegliederter Funktionsbereiche (Staat, Wirtschaft, Kultur) mit eigenen Organisations- und Repräsentationsformen aufgegeben werden. Rudolf Steiners Buch „Die Kernpunkte der sozialen Frage“ erregte öffentliches Aufsehen. Eine Reihe von Einrichtungen versuchten im Kleinen eine Realisierung dieser Ansätze (z.B. Futurum A.G., Kommender Tag A.G.).
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Rudolf Steiner hielt auf Bitten von Ärzten um 1921 Vorträge zur geisteswissenschaftlichen Erweiterung und Vertiefung ihrer medizinischen Arbeit. Aufgrund dieser und weiterer Anregungen zur Ergänzung der Schulmedizin kam es 1921 zur Eröffnung zweier Kliniken und einer pharmazeutischen Fabrik. (Später Ita-Wegman-Klinik in Arlesheim/CH, Filderklinik b. Stuttgart/DE; WELEDA, WALA)