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"Das Ich erhält Wesen und Bedeutung von dem, womit es verbunden ist" - Rudolf Steiner prägt im Buch "Theosophie" mit diesen einfachen Worten einen komplexen Zusammenhang: Die eigene Existenz wird durch das geprägt, was Gegenstand ihrer Beschäftigung ist.

Diese grundlegende Schrift Rudolf Steiners empfiehlt sich als Ausgangspunkt zu einem systematischen Studium der Anthroposophie. In dem Werk wird die leibliche, seelische und geistige Wesenheit des Menschen behandelt. Es wird darin zudem der Gedanke über Wiederverkörperung des Geistes und das Schicksal entwickelt sowie die seelische und geistige Welt und deren Verbindungen mit der physischen Welt beschrieben.

»Die größte göttliche Offenbarung ist der sich entwickelnde Mensch. Lernt man diesen sich entwickelnden Menschen nicht bloß äußerlich anatomisch-physiologisch kennen, lernt man erkennen, wie in den Körper Seele und Geist hineinschießen, hineinströmen, dann verwandelt sich jede Menschenerkenntnis in Religion, in fromme, scheue Ehrfurcht vor demjenigen, was aus den göttlichen Tiefen in die weltlichen Oberflächen hineinströmt.«

[Rudolf Steiner, »Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung«, GA 307, Aufl. 1986, Siebenter Vortrag, Ilkley, 11. August 1923, S. 135]

Das Wesen des Menschen

"Das Ich erhält Wesen und Bedeutung von dem, womit es verbunden ist" - Rudolf Steiner prägt im Buch "Theosophie" mit diesen einfachen Worten einen komplexen Zusammenhang: Die eigene Existenz wird durch das geprägt, was Gegenstand ihrer Beschäftigung ist.

Womit "das Ich" sich verbindet, ist einerseits an die Vergangenheit gebunden (Leib), kann in der Gegenwart aktuell erfasst und gestaltet werden (Seele) und zu Fähigkeiten führen, die eigene Existenz aus Zukunftsmöglichkeiten zu verwirklichen (Geist).

Diese und andere grundlegenden Dimensionen menschlichen Seins sind Gegenstand untenstehender Darstellung Rudolf Steiners.

"Die folgenden Worte Goethes bezeichnen in schöner Art den Ausgangspunkt eines der Wege, auf denen das Wesen des Menschen erkannt werden kann: «Sobald der Mensch die Gegenstände um sich her gewahr wird, betrachtet er sie in bezug auf sich selbst; und mit Recht, denn es hängt sein ganzes Schicksal davon ab, ob sie ihm gefallen oder mißfallen, ob sie ihn anziehen oder abstoßen, ob sie ihm nützen oder schaden. Diese ganz natürliche Art, die Dinge anzusehen und zu beurteilen, scheint so leicht zu sein, als sie notwendig ist, und doch ist der Mensch dabei tausend Irrtümern ausgesetzt, die ihn oft beschämen und ihm das Leben verbittern. – Ein weit schwereres Tagewerk übernehmen diejenigen, deren lebhafter Trieb nach Kenntnis die Gegenstände der Natur an sich selbst und in ihren Verhältnissen untereinander zu beobachten strebt: denn sie vermissen bald den Maßstab, der ihnen zu Hilfe kam, wenn sie als Menschen die Dinge in bezug auf sich betrachten. Es fehlt ihnen der Maßstab des Gefallens und Mißfallens, des Anziehens und Abstoßens, des Nutzens und Schadens. Diesem sollen sie ganz entsagen, sie sollen als gleichgültige und gleichsam göttliche Wesen suchen und untersuchen, was ist, und nicht, was behagt. So soll den echten Botaniker weder die Schönheit noch die Nutzbarkeit der Pflanzen rühren, er soll ihre Bildung, ihr Verhältnis zu dem übrigen Pflanzenreiche untersuchen; und wie sie alle von der Sonne hervorgelockt und beschienen werden, so soll er mit einem gleichen ruhigen Blicke sie alle ansehen und übersehen und den Maßstab zu dieser Erkenntnis, die Data der Beurteilung nicht aus sich, sondern aus dem Kreise der Dinge nehmen, die er beobachtet.»

Auf dreierlei lenkt dieser von Goethe ausgesprochene Gedanke die Aufmerksamkeit des Menschen. Das erste sind die Gegenstände, von denen ihm durch die Tore seiner Sinne fortwährend Kunde zufließt, die er tastet, riecht, schmeckt, hört und sieht. Das zweite sind die Eindrücke, die sie auf ihn machen und die sich als sein Gefallen und Mißfallen, sein Begehren oder Verabscheuen dadurch kennzeichnen, daß er das eine sympathisch, das andere antipathisch, das eine nützlich, das andere schädlich findet. Und das dritte sind die Erkenntnisse, die er sich als «gleichsam göttliches Wesen» über die Gegenstände erwirbt; es sind die Geheimnisse des Wirkens und Daseins dieser Gegenstände, die sich ihm enthüllen.

Deutlich scheiden sich diese drei Gebiete im menschlichen Leben. Und der Mensch wird daher gewahr, daß er in einer dreifachen Art mit der Welt verwoben ist. – Die erste Art ist etwas, was er vorfindet, was er als eine gegebene Tatsache hinnimmt. Durch die zweite Art macht er die Welt zu seiner eigenen Angelegenheit, zu etwas, das eine Bedeutung für ihn hat. Die dritte Art betrachtet er als ein Ziel, zu dem er unaufhörlich hinstreben soll.

Warum erscheint dem Menschen die Welt in dieser dreifachen Art? Eine einfache Betrachtung kann das lehren: Ich gehe über eine mit Blumen bewachsene Wiese. Die Blumen künden mir ihre Farben durch mein Auge. Das ist die Tatsache, die ich als gegeben hinnehme. – Ich freue mich über die Farbenpracht. Dadurch mache ich die Tatsache zu meiner eigenen Angelegenheit. Ich verbinde durch meine Gefühle die Blumen mit meinem eigenen Dasein. Nach einem Jahre gehe ich wieder über dieselbe Wiese. Andere Blumen sind da. Neue Freude erwächst mir aus ihnen. Meine Freude vom Vorjahre wird als Erinnerung auftauchen. Sie ist in mir; der Gegenstand, der sie angefacht hat, ist vergangen. Aber die Blumen, die ich jetzt sehe, sind von derselben Art wie die vorjährigen; sie sind nach denselben Gesetzen gewachsen wie jene. Habe ich mich über diese Art, über diese Gesetze aufgeklärt, so finde ich sie in den diesjährigen Blumen so wieder, wie ich sie in den vorjährigen erkannt habe. Und ich werde vielleicht also nachsinnen: Die Blumen des Vorjahres sind vergangen; meine Freude an ihnen ist nur in meiner Erinnerung geblieben. Sie ist nur mit meinem Dasein verknüpft. Das aber, was ich im vorigen Jahre an den Blumen erkannt habe und dies Jahr wieder erkenne, das wird bleiben, solange solche Blumen wachsen. Das ist etwas, was sich mir geoffenbart hat, was aber von meinem Dasein nicht in gleicher Art abhängig ist wie meine Freude. Meine Gefühle der Freude bleiben in mir; die Gesetze, das Wesen der Blumen bleiben außerhalb meiner in der Welt.

So verbindet sich der Mensch immerwährend in dieser dreifachen Art mit den Dingen der Welt. Man lege zunächst nichts in diese Tatsache hinein, sondern fasse sie auf, wie sie sich darbietet. Es ergibt sich aus ihr, daß der Mensch drei Seiten in seinem Wesen hat. Dies und nichts anderes soll hier vorläufig mit den drei Worten Leib, Seele und Geist angedeutet werden. Wer irgendwelche vorgefaßten Meinungen oder gar Hypothesen mit diesen drei Worten verbindet, wird die folgenden Auseinandersetzungen notwendig mißverstehen müssen. Mit Leib ist hier dasjenige gemeint, wodurch sich dem Menschen die Dinge seiner Umwelt offenbaren, wie in obigem Beispiele die Blumen der Wiese. Mit dem Worte Seele soll auf das gedeutet werden, wodurch er die Dinge mit seinem eigenen Dasein verbindet, wodurch er Gefallen und Mißfallen, Lust und Unlust, Freude und Schmerz an ihnen empfindet. Als Geist ist das gemeint, was in ihm offenbar wird, wenn er, nach Goethes Ausdruck, die Dinge als «gleichsam göttliches Wesen» ansieht. – In diesem Sinne besteht der Mensch aus Leib, Seele und Geist."

(aus Rudolf Steiner, Theosophie, GA 9, Dornach 1961, S. 24f)

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Rudolf Steiner, Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt, Basel, Rudolf Steiner Verlag, 19976.

Inhalt (Auswahl): Die vier Kreise des menschlichen Seelenlebens und ihr Erkraften im Raum / Das Aus-dem-Leibe-Treten in der Zeit / Phantome und Gedächtnisschatz / Die Umwandlung der kosmischen Weisheit in organisierende Seelenkräfte. Der Wille als schöpferische Kraft / Unsere eigene Vergangenheit als Außenwelt.

8 Vorträge, Wien 1914, GA 153.