FondsGoetheanum: Altern und Sterben

Das Leben macht Sinn. Das Sterben auch

In Würde altern und sterben. Dies ist eine der grossen Herausforderungen unserer Zeit. Wer auch im Alter Interesse an den Mitmenschen und an der Welt zeigt, wird belohnt. Denn Engagement hält jung und aktiviert Kräfte. Das Leben macht Sinn. Sinnvolles birgt auch das Sterben.

Ich steh vor einem mächtigen, knorrigen alten Nussbaum. Sein Stamm zeigt tiefe Furchen. Die Rinde ist hart geworden. Die Jahre in Wind und Wetter haben ihre Spuren hinterlassen. Mächtig steht er da. Staunend steh ich als Betrachter in seinem Schatten. – Daneben wächst ein junges Nussbäumchen. Der Stamm ist noch kaum armdick. Seine Rinde glänzt noch weich und glatt. Durchschimmernd nehm ich die typischen Formen wahr, die dem Stamm in seinem späteren Alter die charakteristischen Furchen geben. Nicht nur beim Menschen, auch in der Natur kann man die Reifeschritte vom Keimling über viele Wachstumsphasen bis zum hohen Alter eindrücklich beobachten und bewundern. Am alten Baum erlebe ich die Lebensreife, das Ruhen in sich selbst.

Lebenswandel und Lebensreife

Über viele Stufen entwickelt sich das Leben zum Altern hin. Wie die Jahrringe beim Baum, hinterlassen auch die Lebensschritte in der menschlichen Biographie ihre Spuren. Ein  alter Mensch ist davon gezeichnet.  Das Älterwerden erinnert einen an die Endlichkeit des irdischen Daseins. Verlust und Abschied gehören dazu. Schauen wir genauer hin, entdecken wir, dass die Übergänge, die Schwellen des Abschieds, die mit Verlusten einhergehen, bereits in der Kindheit beginnen: Zahnwechsel, Schulreife, Pubertät und Erwachsenwerden sind ganz typische Etappen. In der Mitte  des Lebens werden viele von der Midlife Crises nicht verschont. Doch sind diese eine Chance! Statt dass monotone Lebensroutine um sich greift, kommt es gern in dieser Zeit zu neuen Impulsen von aussen oder durch Initiativen aus dem Innern der Persönlichkeit zu Lebenswenden. Die Partnerschaft erhält frische Impulse und reift zu neuer Blüte oder aber sie welkt und geht in Brüche. Ein Berufswechsel ist angezeigt, eine Schulung. Die Mitte des Lebens kann zur Quelle werden, die in die Zukunft trägt.

Aufbruch ins dritte Lebensalter

Dieser Lebensabschnitt stellt uns vor neue Herausforderungen. Die Notwendigkeiten und der Rhythmus des Berufslebens, die uns geprägt haben, fallen weg. Nach der Pensionierung sind wir es, die unser Leben gestalten. Wir haben Zeit, über das bisherige Leben nachzudenken. Vielleicht hilft uns eine Biographiearbeit, unser bisheriges Leben besser zu verstehen und so gereift die noch verbleibende Zeit zu gestalten. Indem wir bewusst leben, erfahren wir, welche Aufgaben auf uns warten, wo unsere Mithilfe, auch finanzielle, unser Wissen und unser Menschsein gefordert sind, sei es in der Familie, im Freundeskreis oder in der Gesellschaft.

Es öffnet sich der Raum für eigene Entschlüsse, für ganz neue Aufgaben und Erfahrungen. Neue Aufgaben, andere Verhaltensweisen oder Wechsel im Beziehungsnetz wirken belebend, verjüngend, sie schenken neue Entwicklungsperspektiven.

Die typisch familiengeprägten Rollen sind heute im Schwinden. Und doch, sie sind in verwandelter Art wieder da. Statt, dass man ins Stöckli zieht wie einst und der jüngeren Generation das Ruder überlässt, warten Aufgaben in der Nachbarschaft. Wie wertvoll sind altersdurchmischte Quartiere in Wohnsiedlungen. Die meisten älteren Menschen schätzen Kinderstimmen. Die Begegnung von Kindern mit betagten Menschen weckt ein Leuchten in den Augen beider. Kinder fühlen sich oft zu älteren Menschen hingezogen, als möchten sie teilhaben am Reichtum eines reifen Lebens.

Pensionierte übernehmen an vielen Orten im Stillen Schülerbegleitungen im normalen Unterricht. Sie erweisen sich als wertvolle Assistenten der Primarlehrerinnen und Primarlehrer. Die Schweiz ist kein Vorzeigeland bezüglich Familienfreundlichkeit für Berufstätige. Die traditionelle Mutterrolle ist im Wandel. Sehr geschätzt sind oft Grossmütter und Grossväter, die durch ihre Familienpräsenz den beruflichen Wiedereinstieg in jungen Familien unterstützen.

Das Leben mitgestalten und geistig jung bleiben

Alt fühlt man sich, wenn man nicht mehr gebraucht wird. Das Dasein erscheint wie sinnlos. Es droht die Einsamkeit. Der innere Absturz. Die Leere. Das kann schon in der Lebensmitte beginnen, wo die ersten Anzeichen des älter Werdens spürbar werden. Das Leben zeigt in der äusserlichen Vitalität einen klar aufsteigenden und später einen wieder absteigenden Bogen. Die Persönlichkeitsentwicklung braucht mit dem Verlust an Lebenskräften nicht parallel zu gehen. Im Gegenteil. Es können für die zweite Lebenshälfte  durch gezielte Übung und Entwicklung der Persönlichkeit Reifeschritte bis ins höchste Alter angeregt und vorbereitet werden. Die Geburt, der Eintritt ins Leben, erscheint wie ein  Geschenk. Er ist durch angelegte Begabungen gekennzeichnet. Deren Vorrat kann im Leben aufgebraucht werden. Wo durch innere Aktivität neue Fähigkeiten reifen, da entstehen die  Lebensspuren, die wir am alten Menschen als Würde des Alters wahrnehmen wie an einem alten Baum. Da ist es auch nicht nötig, durch künstliche Massnahmen scheinbare Jugendlichkeit vorzutäuschen. Der Körper wird älter, er macht Beschwerden, wenn jedoch das Interesse am andern Menschen und an der Gesellschaft sowie an der eigenen Entwicklung wach bleibt, dann bleibt der Mensch geistig jung und nimmt nicht nur am Leben teil, sondern gestaltet es mit.

Der letzte Weg

Ist der dritte Lebensabschnitt meist von Zuversicht und Offenheit für Neues geprägt, bleibt dies in der letzten Lebensphase nicht mehr so selbstverständlich. Jetzt nehmen die Verluste sowohl in der souveränen Beherrschung des Körpers, der Vitalität, der Sinnesorgane wie Gehör oder Augenlicht überhand. Das Gedächtnis schwindet. Viele Hochbetagte leben in der inneren Verarbeitung ihres Lebens. Häufig werden Erinnerungen an die Kindheit und Jugendzeit unerwartet wach und klar. Manche erleiden jedoch schwerwiegende, leidvolle Erkrankungen.  Auch dieses Lebensalter ist hoch anspruchsvoll. Hat man vielleicht sein ganzes Leben anderen Menschen gedient, ihnen geholfen, ist man jetzt möglicherweise vom guten Willen anderer abhängig, muss sich helfen lassen. Das zu lernen, ist ein schwerer Übungsweg. Unübersehbar werden auch auf dem Weg des Erdenabschieds neue, wichtige Fähigkeiten gelernt. 

Unspektakulär zwar. Doch nicht weniger bedeutend. Die verständnisvolle und liebevolle Zuwendung der Angehörigen und Pflegenden kann auch in dieser Lebenszeit Sinnhaftigkeit, Dankbarkeit und kräftigen Lebenswillen wecken. Die mögliche bescheidene Anteilnahme am Leben, das Interesse an der Natur und am Mitmenschen, kleinste Aufgaben, die den schwindenden Kräften abgerungen werden,  können Gold wert sein. Bedeutungsvoll kann die Qualität der Ernährung, kann ein rhythmisch geregeltes Leben und die innere Anregung erfüllender Gedanken sein. All das sind Gegengewichte zur schwindenden Souveränität in der äusseren Welt. Sie können in schwierigster Lebenslage eine Kraft bedeuten, welche als Sinnhaftigkeit empfunden wird bis zuletzt.

Im vergangen Jahrzehnt ist die Bedeutung und Wertschätzung hohen Alters wieder gewachsen. Der vermeintlichen Sinnlosigkeit und Ausweglosigkeit des Lebens tritt mit der palliativen Pflege eine würdevolle, die individuelle Lebenslage einfühlsam begleitende Haltung entgegen. Der Bundesrat hat  mit seiner «Nationalen Strategie Palliative Care 2010 – 2012» wichtige Zeichen gesetzt. Es gilt, durch Forschung, Schulung und Finanzierung dem hochbetagten Menschen wahrhafte Würde bis zum Übergang in ein anderes Dasein zu erhalten. Lebensreife, Fruchtbildung bis zum Tode sind Aussichten, die auf dem Weg zum neuen Leben substanziell wirken können.

Franz Ackermann