Wo liegt der Quell der Kunst?
Jede Farbe, jede Form, jeder Klang, jeder Raum hat eine Wirkung auf uns. Dieser Verantwortung ist sich die anthroposophische Kunst bewusst. Sie sucht den Mittelweg zwischen Kopf und Hand, achtsam, sorgfältig und spielend zugleich.
Warum singen die Kinder? Es gibt wohl kaum etwas Schöneres, als wenn man Kinder beim selbstvergessenen Spiel singen hört. Wir können uns dann an die eigene Kindheit erinnern und an die Fantasiewelten, die wir erschaffen haben. Diese erträumten Welten waren oft wirklicher für unser kindliches Bewusstsein als der prosaische Alltag. In ihnen ist es selbstverständlich, dass man singen kann. Niemand muss spielende Kinder zum Singen zwingen. Der innere Himmel, dem die Kinder noch nahe sind, äussert sich auf diese Art.
Das Kind in uns wecken
Warum verstummen wir, wenn wir älter werden? Warum singen wir nicht mehr? Warum spielen wir nicht mehr? Warum werden unsere Träume immer dünner und irrealer? Es scheint der Preis dafür zu sein, dass man ein wirklich praktischer und rationaler Mensch werden kann. So sagt man jedenfalls. Doch gegen diese Ansicht wehrten sich immer wieder grosse Persönlichkeiten. Und das mit Recht!
Ist nicht die Welt, aus der die Träume des Kindes stammen, auch die Welt, aus der alle Visionen und Ideen für eine gesunde Weiterentwicklung des praktischen Lebens kommen? Brauchen wir nicht dringend die Fantasie und Spielfreude des Kindes, um den Alltag besser und schöner zu gestalten?
Liegt nicht das Geheimnis der Kreativität darin, dass wir in uns ein Kind bewahrt haben, das noch träumen kann? Dass man in sich ein Kind bewahrt hat, das noch singen kann? Wenn wir singen, bekommt die Seele Flügel und kann sich über den grauen Alltag erheben. Wenn man so den nötigen Abstand zum Leben finden kann, lassen sich die richtigen Ziele erkennen, mit denen das Leben verbessert werden kann. Es ist das innere, noch singende Kind in uns, das uns kreativ sein lässt, das uns träumen lässt, und das uns zu einem lebensfrohen Menschen machen kann.
Kunst fürs ganze Leben
Anthroposophische Kunst möchte dies fördern. Sie sieht die Bedeutung der Kunst für das ganze Leben. Egal welchen Beruf man ausübt, durch die Pflege des Künstlerischen kann man alles wieder neu ansehen und alles wieder neu und stärker erleben. Es geht nicht darum, wieder so zu spielen wie das Kind. Der erwachsene Mensch muss sich bewusst sein, was er tut und was er hervorbringt. Nur dann kann er die Verantwortung dafür übernehmen. Sein «Spiel» muss bewusst und selbstkritisch sein. Das ist der Unterschied zwischen Kunst und Spiel.
Mit Herz, Kopf und Hand
Die anthroposophische Kunst möchte vor allem die Mitte, die Herzregion des Menschen stärken. Unsere heutige Kultur stellt grosse Anforderungen an das Denken und den Willen. Durch die Kunst wird besonders das Fühlen gestärkt und kultiviert. Menschen mit Herz können Kopf und Hand so miteinander verbinden, dass ihre Arbeit harmonisch und gesundend wirkt. Deshalb sucht man in der anthroposophischen Kunst bewusst den Mittelweg zwischen Kopf und Hand. Es sollen keine Konzepte und Gedanken künstlerisch dargestellt werden. Es soll auch nicht einfach aus dem Bauch heraus etwas geschaffen werden.
Alles, was gestaltet wird, beeinflusst den Menschen. Jede Farbe hat eine Wirkung auf uns, jede Form, jeder Klang, jeder Raum … Mit dieser Wirkung darf der Künstler nicht verantwortungslos umgehen. Das sind die Kunstmittel, die es zu gestalten gilt, und es geht darum, spüren zu lernen, welches Kunstmittel wie auf den Menschen wirkt. Denn in der Kunst geht es vor allem um das Erleben.
Die einzelnen Kunstmittel können zu einer Sprache werden, die der Künstler zu den Menschen spricht. Es ist eine Sprache, die gefühlt werden muss. Es ist eine Sprache, die unsere Mitte anspricht und stärkt. Es ist eine Sprache, die wir als Kind alle sprechen konnten, als wir beim Spiel noch gesungen haben, und die bewusst neu zu lernen eine Aufgabe der Kunst ist.
Johannes Greiner