Kann Bio die Welt ernähren?
«Das globale Ernährungssystem ist gescheitert – Millionen Menschen bezahlen den Preis. [...] Dieses Scheitern ist nicht unvermeidbar. Es ist ein Resultat der Entscheidungen, die wir treffen.» 1 Mit diesen alarmierenden Worten richtet sich der UN-Generalsekretär António Guterres an der Welternährungskonferenz Ende Juli 2023 an uns alle.
UN-Generalsekretär Antonio Guterres verlangt einen Kurswechsel, damit in Zukunft die wachsende Weltbevölkerung trotz des sich stark verändernden Klimas ausreichend ernährt werden kann. Bereits 2008 hat der von der UN und der Weltbank in Auftrag gegebene Weltagrarbericht «Landwirtschaft am Scheideweg – weiter wie bisher ist keine Option» mit Blick in die Zukunft den Kurswechsel hin zur ökologischen Landwirtschaft gefordert.
Ja, Bio kann die Welt ernähren, sofern Konsumentinnen und Konsumenten, Wirtschaft und Politik anerkennen, dass es so nicht weitergeht, die damit verbundenen Herausforderungen akzeptieren und handeln. Das Potential der Bio- und biodynamischen Landwirtschaft ist gross: Sie machen Böden wieder fruchtbar, fruchtbare Böden binden Kohlenstoff, begrünen Wüsten und machen sie zu vielfältigen Ökosystemen.
Ein Ziel der Welternährung: Hunger bis 2030 beenden
Wie sich die Ernährungssicherheit definiert, wurde 1996 während des Welternährungsgipfels der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UN (FAO) bestimmt: «[Sie] besteht dann, wenn alle Menschen jederzeit physisch und wirtschaftlich Zugang zu ausreichend, sicheren und nahrhaften Lebensmitteln haben, um ihre Ernährungsbedürfnisse und -präferenzen für ein aktives und gesundes Leben zu befriedigen2.»
Mit Initiativen und Projekten wird versucht, die Welternährung in Zukunft unter Berücksichtigung des Klimawandels zu sichern. Auch wenn die Mitgliedstaaten der UN 2015 beschlossen haben, bis 2030 den Hunger weltweit zu beenden, kann man leicht bemerken, dass zwischen politischen Vorsätzen und Realität derzeit noch eine grosse Lücke klafft. Weltweit hungern rund 828 Millionen Menschen und gleichzeitig leiden rund 676 Millionen Menschen unter Übergewicht und Adipositas. Covid-19, die Auswirkungen von nationalen Konflikten und Kriegen wie in der Ukraine, aber auch die Auswirkungen des Klimawandels lassen die Zahlen seit 2019 wieder steigen.
Steigender Druck auf die Welternährung
Die Herausforderungen für die Gewährleistung der Ernährungssicherheit sind weltweit unterschiedlich. So ist in einigen Ländern der Zugang zu Nahrungsmitteln durch politische Konflikte oder durch fehlende Infrastrukturen wie Strassen oder Kühlsysteme erschwert. In anderen Ländern ist die Lebensmittelverschwendung eine grosse Herausforderung; rund 30 % der global produzierten Lebensmittel landen derzeit ungenutzt auf dem Müll und tragen so zu Ressourcenverschwendung und Umweltbelastung bei3.
Die Landwirtschaft selbst steht vor den Herausforderungen, trotz der abnehmenden natürlichen Ressourcen wie Wasser, Bodenfruchtbarkeit, Bodenverfügbarkeit und Energie ausreichend Nahrungsmittel zu produzieren. Der Klimawandel ist hier ein Beschleuniger. Extremwetterereignisse, veränderte Niederschlagsmuster und zunehmend längere Trockenperioden, Hitzewellen und weitere Hindernisse reduzieren die gewohnten Erträge. Pestizide sowie Dünger haben nicht nur einen hohen CO2-Ausstoss, sondern schaden auch der Bodenfruchtbarkeit und der Biodiversität. Der Verlust an Biodiversität, wie z. B. von bestäubenden Insekten, und der Verlust an genetischer Vielfalt von Kulturpflanzen und Nutztieren fordern die Landwirtschaft. Wie kann sie auf die sich ändernden Bedingungen reagieren?
Bio für Ernährungssicherheit
Weltweit wird derzeit in rund 191 Ländern biologische und/oder biodynamische Landwirtschaft betrieben. Das entspricht einer weltweiten Fläche von 76,4 Millionen Hektar im Jahr 2021. Im Verhältnis zur weltweiten landwirtschaftlichen Fläche sind dies rund 1,6 %4, mit wachsender Tendenz; in der Schweiz sind es aktuell 18 % der Fläche, in der EU über 9 %. Die Vorteile dieser landwirtschaftlichen Systeme sind offensichtlich. Sie praktizieren Landwirtschaft ohne chemische Düngemittel, Pestizide, Herbizide oder sonstige chemische Zusätze. Dies ist nicht nur wichtig für die Nachhaltigkeit der Landwirtschaft, sondern auch für die Menschen. Denn Agrochemikalien werden im globalen Süden teilweise nicht nach den notwendigen Schutzvorkehrungen, wie der Anwendung von Atemmasken, ausgebracht. So vergiften sich jedes Jahr rund 385 Millionen Menschen unbeabsichtigt mit Pestiziden. Davon sterben rund 11 000 Menschen jährlich5. Aber Europa ist auch betroffen: In Frankreich gilt seit Ende 2021 Krebs als anerkannte Berufskrankheit von Landwirtinnen und Landwirten6.
In der Bio- und biodynamischen Landwirtschaft werden Lebensmittel produziert, die sicherer für Konsumenten und Produzenten sind. Ein weiterer grosser Vorteil von biologischer und biodynamischer Landwirtschaft für unsere Ernährungszukunft ist ihr Denken und Handeln in Stoffkreisläufen. Tieranzahl, Düngerbedarf und Fruchtfolgen werden auf die Möglichkeiten und Bedürfnisse des Bodens abgestimmt. Der Boden wird so wichtigste Ressource. Er wird geschützt und aufgebaut durch diversifizierte Fruchtfolgen, Zwischenfrüchte und Gründüngung sowie eine lokal angepasste Bodenbearbeitungspraxis.
Dieser Schutz des Bodens ist für unser Überleben unabdingbar, denn derzeit gehen rund 24 Milliarden Tonnen Boden weltweit jedes Jahr durch landwirtschaftlich bedingte Erosion verloren, das heisst rund 3 Tonnen pro Mensch auf unserer Erde! Wissenschaftliche Studien, u. a. der Langzeitversuch DOK von Agroscope/FiBL in Therwil, belegen, dass der Biolandbau Bodenfruchtbarkeit aufbaut und somit den Boden widerstandsfähiger gegen Erosion macht. Gleichzeitig können Treibhausgasemissionen durch den Biolandbau reduziert werden. 7 Eine wichtige Grundlage für die Ernährungssicherheit unserer Zukunft!
Weichenstellungen für den Kurswechsel
Warum ist trotz der Aufforderung des Weltagrarberichts «weiter wie bisher ist keine Option» und der grossen Vorteile weltweit noch nicht mehr Fläche biologisch und biodynamisch bewirtschaftet? Wieso unternehmen Politik, Konsumentinnen und Konsumenten und die Ökonomie nicht die nötigen Schritte? Im Vergleich zu konventionellen Anbaumethoden, bei denen grosse Mengen an Stickstoffdünger und Mittel gegen Schädlinge eingesetzt werden, hat der Biolandbau etwas geringere Erträge pro Fläche, je nach Kultur, Standort und Wissen der Landwirtinnen und Landwirte. Dies bedeutet, dass bei bisherigen Essgewohnheiten mehr Fläche benötigt wird, um im Biolandbau die gleichen Lebensmittel in derselben Menge zu produzieren. Als Konsumentinnen und Konsumenten können wir etwas beitragen, indem wir erstens weniger Lebensmittel verschwenden und zweitens unseren Konsum ressourcenintensiver Produkte wie Fleisch reduzieren.
Der Arbeitskräfteeinsatz im Biolandbau ist höher, hingegen fallen im Biolandbau keine Kosten für die Pestizide und Dünger an. Dies ist ein wichtiger Faktor, gerade für Kleinbetriebe im globalen Süden, die sich teure Spritzmittel, Saatgut und synthetische Düngemittel oft nicht leisten können8.
Die biologische und biodynamische Landwirtschaft ist eine wissensintensive Anbauform, in der es keine Patentrezepte gibt. Es erfordert Engagement, Beobachtungsgabe und den Willen, das eigene System zu hinterfragen und anzupassen. In Ländern ausserhalb Europas befinden sich biologische und biodynamische Betriebe oft noch in der Pionierrolle und können zu wenig auf Netzwerke und Unterstützung zurückgreifen. Es braucht weltweit viel mehr Wissenstransfer, um die Bäuerinnen und Bauern zur Biolandwirtschaft zu befähigen. Auch die Konsumentinnen und Konsumenten wissen teilweise noch zu wenig über diese Form des Anbaus. Es ist dringend notwendig, darüber viel besser und intensiver zu informieren. Biolandwirtschaft und Ernährung müssen vom Kindergarten bis zur Matura stufengerecht in den Unterrichtsplan integriert werden.
Aber Biolandwirtschaft hat nicht nur viel für unsere Nachhaltigkeit zu bieten, sie fördert auch Achtsamkeit und Wertschätzung der Natur. Die Böden, Grundlage unserer Ernährungssicherheit, werden humusreicher, damit fruchtbarer und erodieren viel weniger. Die erzeugten Lebensmittel sind besser für die in der Produktion tätigen und die konsumierenden Menschen. Neben Tierwohl und Biodiversität stehen auch die erholsamen Landschaften im Fokus.
Was und wie zuerst alle beitragen müssen
Wir müssen die Strategie «Feed no food» – «Verfüttere keine Lebensmittel» rasch umsetzen, das ist eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, dass Bio die Welt ernähren kann. Derzeit werden 78 % der landwirtschaftlichen Flächen für die Tierhaltung und für Tierfutter verwendet9. Die Herausforderungen sind hier einerseits, die Ackerflächen für die menschliche Ernährung und nicht für Tierfutter zu nutzen, und andererseits heisst dies eben auch, weniger Fleisch zu konsumieren. Immer mehr medizinische Stimmen betonen, dass eine überwiegend pflanzenbasierte Ernährung, die Reduzierung der tierischen Lebensmittel und mehr saisonale bzw. regionale Lebensmittel auf dem Speiseplan die Gesundheit fördern10.
Wo die Zukunft schon heute lebt
Dass Bio- und biodynamische Landwirtschaft funktionieren, zeigen die vielen erfolgreich etablierten biodynamischen Betriebe in Europa und auch im globalen Süden. So gibt es die Gemeinschaft von mehr als 5000 Kleinbetrieben in Kenia, welche auf ihren Flächen eine bunte Mischung verschiedener Kulturen anbauen. Durch die gemeinsame Vermarktung ihrer Macadamianüsse erleben sie die Bedeutung der Qualität und der Gemeinschaft. Ihre Nachbarn in der «Mbagathi Rudolf Steiner Schule» in Nairobi integrieren die biodynamische Landwirtschaft in die Schuldbildung, vor allem die Praxis. Die Kinder bauen mit Unterstützung der Lehrerinnen und Lehrer alle Produkte an, welche die Schule für die Mahlzeiten benötigt, und erfahren, wie sie ohne den Einsatz von Pestiziden oder Agrochemikalien angebaut werden. Die Kinder pflegen die Kulturen, lernen, wie die einzelnen Kulturen geerntet und auch, wie die Produkte haltbar gemacht werden; sie lernen den Wert von Lebensmitteln kennen. Sie erlernen im Tun nachhaltige Landwirtschaft, bringen sie in ihre Dörfer und praktizieren dort mit den Dorfbewohnerinnerinnen und -bewohnern biologische und biodynamische Landwirtschaft für ihre Gemeinschaften.
Wie Bio die Ernährungssicherheit unterstützen kann, zeigt beispielhaft der biodynamische Betrieb Rekola in Finnland, welcher durch solidarische Landwirtschaft Menschen in der Stadt versorgt. Er baut feinstes Gemüse an. Im Frühling bietet er eine bunte Vielfalt an Pflanzenzsetzlingen an, damit die Mitglieder auf dem eigenen Balkon geeignetes Gemüse ziehen können11.
Und wenn wir in ganz extreme Regionen schauen wie die Wüste, so finden wir auch hier biodynamische Höfe, die seit Jahrzehnten erfolgreich fruchtbaren Boden aufbauen, d. h. Wüsten fruchtbar machen und so Selbstversorgung ermöglichen. 12 Sie schaffen Orte wie z. B. Sekem in der Nähe von Kairo, wo in Zusammenarbeit von Ökologie, Ökonomie und Sozialem tragfähige Konzepte entstehen. Wo der Mensch die Natur unterstützt und pflegt, sodass sie ihre ganze Fülle und Schönheit entfalten kann. Es sind Orte der Inspiration für die Frage der Welternährung.
Ausblick und mutige Schritte
Unsere globale Ernährungssicherheit hängt nicht alleine von der landwirtschaftlichen Produktion ab. Sie ist ein Zusammenspiel von vielen Faktoren aus Handelsmöglichkeiten, Infrastruktur, Verteilung von Ressourcen, Politik, (Aus-)Bildung, finanziellen, zeitlichen und sozialen Bedingungen. Alleine kann die biologische und biodynamische Landwirtschaft den Systemwandel nicht stemmen13.
Die Klimaveränderungen werden jedes Jahr deutlicher. Der Kurswechsel hin zur Bio- und biodynamischen Landwirtschaft ist dringend, die damit verbundenen Weichenstellungen für die Sicherung der weltweiten Ernährung müssen ebenso dringend eingeleitet werden: Es braucht politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, die mutig Schritte für mehr Ausbildung, Forschung, Wissensvermittlung und eine andere Preispolitik gehen, z. B. durch die Integration der indirekten Produktionskosten in die Preise! Es braucht uns als Konsumentinnen und Konsumenten, als Vertreter von Handel, als engagierte Personen, die eine nachhaltige Zukunft und die Ernährungssicherheit unterstützen! Die sich wagen, neue Formen der Ernährung auszuprobieren und zu integrieren. Und es braucht Landwirtinnen und Landwirte, die für uns alle mutig Schritte in die Zukunft gehen!
Lin Bautze, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am FiBL