«Kranksein kann in uns den Willen wecken, das eigene Leben umzugestalten ».
Aktuell – November 2011
Kunst ist ein Heilmittel
Zwischen Kunst und Medizin gibt es starke Verbindungen und Wechselwirkungen. Die anthroposophische Kunsttherapie zeigt neue Ansätze, welche zur weiteren Erforschung ermutigen. Die einzelnen Kunstformen werden krankheits- und symptomspezifisch eingesetzt.
Krankheit als Gestaltungshilfe
Die am meisten verbreitete Kunst ist die Kunst der aktiven Lebensgestaltung, die biografische Kunst. Nicht immer gestalten wir unser Leben allein aus unserem Bewusstsein, oft brauchen wir Anstoss «von aussen», zum Beispiel eine Krankheit.Das Kranksein, beziehungsweise das Wieder-gesund-Werden, kann in uns den Willen wecken, das eigene Leben umzugestalten, neu zu greifen. Kunst – aktiv aufgenommen oder ausgeübt – kann uns in diesem Prozess nähren und beflügeln. Gerade in Krisen kann eine neue Empfänglichkeit, ein neuer Zugang zur Kunst erwachen.
Deshalb legen anthroposophische Spitäler auch Wert auf eine künstlerische Gestaltung der Gebäude und Räume. Kunstausübung kann Ärzte oder Pflegende in die Lage versetzen, schwierige und komplexe Situationen der Patienten besser zu erfassen und tiefer zu verstehen.
Bildende Kunsttherapie
Zwischen einzelnen Kunstmitteln und Krankheiten beziehungsweise Symptomen bestehen ganz spezifische Bezüge. Jede Kunst arbeitet mit ihren besonderen Elementen. Die Plastik zum Beispiel mit Formen und Proportionen. Die anthroposophische Kunsttherapie greift über das Kunsterlebnis hinaus. Der Kunsttherapeut untersucht die Auswirkung der einzelnen Kunstelemente auf den zu heilenden Menschen und seine Organfunktionen. Durch gezielt gewählte Übungen wirkt er auf den erkrankten Organismus ein.
Die Kunst, aktiv am Heilungsprozess mitzuwirken
Anthroposophische Kunsttherapien setzen die den Menschen bildenden und umbildenden Kräfte der Bewegung, der Sprache, der Musik, der Plastik und der Malerei therapeutisch ein. Sie eröffnen dem Patienten neue Möglichkeiten, aktiv übend an der eigenen Gesundheit mitzuwirken.Die gesamte Forschung in diesem Bereich muss durch Spenden finanziert werden. Seit 2011 können anthroposophische Kunsttherapeuten/-innen den Titel eidg. diplomierte/r Kunsttherapeut/in erwerben. Der Schweizer Verband für Anthroposophische Kunsttherapie (svakt) hat an dieser Fachprüfung entscheidend mitgewirkt.
Ein Beispiel: Mit der Kraft der Sprache therapieren
Therapeutische Sprachgestaltung formt Laute, Silben, Worte und Sätze. Diese uns vertrauten Sprachelemente haben ihren Bezug zum Körper, zur Lebensenergie und natürlich zur eigenen Seele, die sprechend mit anderen Menschen in Beziehung tritt. Je weiter die Gestaltungskraft einer Dichtung auf die Ebenen von Silbe und Laut herunterreicht, umso grösser ist ihre Kraft, durch die verlebendigte Atmung den Körper selber zu beeinflussen. Therapeutische Sprachgestaltung setzt den ganzen Reichtum jener Sprachelemente gemäss der entsprechenden Indikation als Mittel zur Selbstgestaltung ein.
Mit Hexametern tief entspannen
Für die Therapeutische Sprachgestaltung kamen wichtige Impulse aus einer Forschergemeinschaft mit Zentrum an der Universität Bern. In internationalen Publikationen konnte aufgezeigt werden, dass der Hexameter (ein klassisches Versmass) den Menschen in einen schwebenden Bereich zwischen Wachen und Träumen bringen kann. Der Puls passt sich vollständig der Atmung an, es folgen tiefe Entspannung und nachhaltige Ruhe. Ein Folgeprojekt mit der Ita Wegman Klinik in Arlesheim zeigte, dass Therapeutische Sprachgestaltung die Blutdruckregulation günstig zu beeinflussen vermag. Die Resultate sind ermutigend und werden in klinischen Anwendungssituationen weiter erforscht.
Dr. med. Andreas Bindler, Dietrich von Bonin, Kirstin Kaiser
Durch die Musik zu sich finden
Die Musik ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Durch alle Kulturen, durch alle Jahrtausende, schon immer hat die Musik die Menschen begleitet und therapiert. Musik erklingt in den verschiedensten Lebenssituationen.
Musik baut Brücken zwischen Innen und Aussen, Diesseits und Jenseits, zwischen Ich und Du. Sie ist physisch nicht fassbar und doch real und wird so zur Mittlerin zwischen der irdischen und der geistigen Welt. Musik ist eine objektive Realität, die jeder Mensch ganz subjektiv empfindet und erlebt.
Der Mensch hört schon vor der Geburt
Das Ohr ist bereits im dritten Schwangerschaftsmonat fertig ausgebildet, der Hörsinn ist aktiv. Der Mensch hört schon vor der Geburt. Im Tode ist der Hörsinn der letzte, der erlischt. Er ist eine Brücke vom Vorgeburtlichen zum Nachtodlichen. Wir kennen diese «Brücke» auch im Alltag.
Unser Hörvermögen ist grösser als unser Sehvermögen. Am Klang eines Schrittes hören wir, ob es eine uns bekannte Person ist, die gerade vorbeigeht. Das Hören vermittelt nicht nur Inhalte, sondern auch die innere «Stimmung» des Gesagten. Missverständnisse entstehen oft nicht nur durch den reinen Inhalt der Aussage, sondern durch die «Stimmung», die Art, wie etwas gesagt und gehört wird – sowohl von mir wie von der anderen Person.
Musiktherapie: Ich bin die Musik
Musiktherapeuten arbeiten mit verschiedenen musikalischen Phänomenen, mit Klangqualitäten von unterschiedlichen Instrumenten. Auch die «typische» Spielart eines Instrumentes kann therapeutisch wirken. Ein Patient, der bisher noch nie selber aktiv Musik gemacht hatte und der Musiktherapie gegenüber eher skeptisch war, dachte in der dritten Sitzung «laut» über das Musizieren, sein Musizieren nach und kam zum Schluss: «Es liegt an mir, wie es tönt; ich bin die Musik … ich bin die Musik.»
Teil eines grossen Ganzen werden
Der Mensch kann durch die Musik erleben, dass er Teil eines grossen Ganzen ist, ohne dadurch an Wert zu verlieren. Sein Wert-Erleben wird bestärkt. Dieses innere Wert-Erleben ist zum Beispiel auch in der Sterbebegleitung wichtig. Eine Patientin beschrieb es einmal mit folgenden Worten: «Weil ich die Musik höre, erlebe ich mich, ich weiss, dass ich bin und dass ich mehr bin als nur das Irdische an mir, und dass ich deshalb nicht alleine bin.»
Regula Utzinger
«Das Urbild der Musik ist im Geistigen. Wenn der Mensch Musik hört, fühlt er sich wohl, weil diese Töne übereinstimmen mit dem, was er in der Welt seiner geistigen Heimat erlebt hat».
Rudolf Steiner