FondsGoetheanum: Mensch sein

Kraft schöpfen aus der Natur

© Charlotte Fischer

Auf welche Zukunftsperspektiven setzen? Was tun? Wir spüren, dass eine Rückkehr zum alten Zustand eine Illusion ist. Wir realisieren, dass Menschheit und Erde eine Schicksalsgemeinschaft sind.

 

Angesichts neuer und unbekannter Situationen wie zum Beispiel der aktuellen Pandemie sind wir aufgerufen, unser Unterscheidungsvermögen zu entwickeln, um Wahrheit und Unwahrheit erkennen zu können, denn man hört die widersprüchlichsten Ansichten. Vieles ist nicht transparent, die Argumentation der verschiedenen Akteure wird oft durch Eigeninteressen verzerrt.

Das Wahre erkennen

Wie können wir unseren Sinn für das Wahre stärken? Eine ausgezeichnete Übung ist, der Natur zu vertrauen, die nicht lügt. Wir könnten zum Beispiel den Himmel mehrere Tage hintereinander bei Sonnenuntergang beobachten, also immer zur gleichen Zeit. Wir nehmen die Gesamtsituation genau wahr und versuchen, das innerlich aufgenommene Bild festzuhalten.
Am nächsten Tag werden wir vor der Beobachtung probieren, uns an die Situation des Vortages zu erinnern, um dann in die neue Situation «einzutauchen» und uns mit all unseren Sinnen erneut für das Schauspiel zu öffnen, das sich vor uns entfaltet und das wir innerlich aufnehmen. Eine solche Übung kann vielfach variiert werden: Sie können zum Beispiel regelmässig eine Pflanze oder eine Ecke Ihres Gartens beobachten.
Nach ein paar Tagen werden Sie spüren, dass Ihre Beziehung zu dieser Pflanze, zu dieser Ecke des Gartens, also zur Realität gestärkt ist. Sie werden bemerken, dass Sie eine Qualität des genauen Beobachtens kultivieren, ohne vorschnell zu interpretieren, eine Qualität, die Ihnen hilft, die im Moment so chaotisch erscheinende Welt besser zu verstehen. Man lernt, das Wesentliche vom Anekdotischen zu unterscheiden.

Das Schöne entdecken

Wie können wir – in der derzeitigen Situation der Begrenzung menschlicher Begegnungen und der Angst – innere Kraft und Begeisterung entwickeln? Wiederum kann uns die Natur helfen, indem wir ihre Schönheit wahrnehmen, uns noch stärker für die Himmelsschauspiele öffnen.
Mich hat vor kurzem das überwältigende Erlebnis der Schönheit eines Regenbogens wirklich innerlich gestärkt. Der Schriftsteller Dostojewski sagt sogar: «Die Schönheit wird die Welt retten» und meint damit, wie der Sinn für Schönheit uns innerlich erhebt und mit der Welt verbindet.

Das Gute ermöglichen

Ein drittes Merkmal der gegenwärtigen Situation ist der Eindruck wachsender Unsicherheit, die uns innerlich zusammenkauern lässt. Wir suchen innere Sicherheit und Kraft. Auch dabei hilft uns die Natur, indem wir an ihr den Sinn für das Gute entwickeln. Die persönliche Beobachtung einer Blaumeise, die auf dem Ast eines Baumes im Garten sitzt, nährt mich beispielsweise auf andere Weise als der schönste Naturfilm.
Worin besteht der Unterschied? Der Film bleibt immer ein Spektakel ausserhalb von mir, wohingegen die Beobachtung der Blaumeise, die einen Ast inspiziert und mit hohen, kleinen Schreien auf mich zukommt, kein Spektakel ist, sondern eine Begegnung, die ganz andere Spuren in mir hinterlässt.
Von dem Moment an, in dem ich mich mit einem Wesen verbinde, entwickle ich ein Gefühl der Verantwortung, das meine Seele erweitert. Und dann kann ich dieses Interesse, diese Liebe auf andere Wesen ausdehnen.
So entsteht neben der Bewunderung für die Schönheit der Natur etwas Neues: eine Verbindung zwischen mir und einem anderen Wesen. Und es ist der Sinn für das Gute in uns, der kultiviert wird. Wie der Fuchs zum kleinen Prinzen sagte1: «Du bist verantwortlich für deine Rose, das macht sie einzigartig.»
So können diese bescheidenen Übungen, wenn sie regelmässig praktiziert werden, den Keim für die Fähigkeiten legen, auch in Krisensituationen festen Boden unter den Füssen zu haben: im täglichen Leben das Wahre, das Schöne, das Gute zu suchen und zu pflegen.

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Jean-Michel Florin, Ökologe und Co-Leiter der Sektion für Landwirtschaft

1. A. de St. Exupéry, Der kleine Prinz, Fischer Verlag.