FondsGoetheanum: Mensch sein

Was die Jugend braucht

© Charlotte Fischer

Für eine gesunde Entwicklung der Jugend braucht es die menschliche Lebensgemeinschaft, die Natur und Momente der Begeisterung. Sie sind unabdingbar, damit junge Menschen ihre Persönlichkeit und damit ihr Potenzial entfalten können.

Die letzte Mai-Nummer der Wochenschrift Der Spiegel erzählt die Geschichte von Leonardo. Er ist im Januar 2020 siebzehn Jahre alt geworden. «Er besucht die elfte Klasse eines Gymnasiums in Berlin. Er war knapp anderthalb Jahre vom Abitur entfernt und hatte grosse Pläne. Vor ihm lag eine Welt, so, wie viele sie sich vorstellen mit 17. Dann kam Corona, und jede Welle brachte sein Leben ein bisschen mehr durcheinander.»
Seine Schule hat zugemacht, Fitnessstudio, Fahrschule, Jugendzentrum, Sportverein, Kinos, Bars schnell danach auch. Die Kontakte zu den Freunden wurden erschwert oder mussten sich ins Digitale verlagern. Wollte er sich mit anderen auf einem Fussballplatz treffen, wurden er und seine Freunde von der Polizei weggescheucht.

Eine Welt ist zusammengebrochen

Die Schule hat dann den Online-Unterricht eingerichtet. Doch Leo konnte nur sehr schwer Anschluss finden – technisch und immer mehr auch psychisch bedingt. Es kamen Konzentrationsprobleme, Motivationsverlust, innerer Ausstieg. Leo ist überwiegend in seinem Zimmer wie in einer Zelle geblieben, dort hat er viele lange Nächte am PC verbracht, Tage durchgeschlafen.
Dann wurde es besser. Denn nach einem erholsamen Sommer kamen zwei, vielleicht drei Monate Präsenzunterricht, jedoch sah seine Schule «wie ein Labyrinth mit Pfeilen auf dem Boden und Schildern an den Wänden» aus, die anzeigten, wohin man laufen darf und wohin nicht, was man berühren darf und was nicht, wo man sich aufhalten darf und wo nicht.
Trotzdem war es gut für ihn. Aber dann kam der Herbst und alles wurde wieder dicht gemacht. Selbst der Spielplatz wurde mit Flatterbändern abgeriegelt. Alles war verboten. Nun wurde er wieder ganz ins «League of Legends» am PC in eine virtuelle Welt, die Runeterra heisst, eingesaugt. Die Welt drehte sich für ihn im Kreis. Der Alltag verschob sich wieder in Richtung Nacht. Konflikte mit den Eltern, Schlafprobleme, extreme Langeweile, Sinnlosigkeit, Wut und Übelkeit folgten. Schliesslich hat Leonardo die Schule abgebrochen. Die Beziehung zu seinen Eltern hat dies schwer belastet. Sein Wunsch, ein ökologisches Jahr an der Nordsee zu verbringen, liess sich nicht verwirklichen, die Programme des Jobcenters fanden nur eingeschränkt statt. Mangels Vorerfahrung fand er keine Jobs. Nach Wochen der durch Corona bedingten Quarantäne, in der er sich um seine schwer erkrankten Eltern kümmerte, hat er doch einen Job im Café der Mutter eines Freundes angenommen. Ein kleiner Hoffnungsschimmer am vorläufigen Ende einer traurigen Geschichte.

Nur ein halber Mensch

Leo versinnbildlicht das Schicksal der letzten Monate von Millionen Jugendlichen. In fast allen Ländern der Welt waren Kinder während der Corona-Zeit in irgendeiner Form von einem Lockdown betroffen. Im Durchschnitt haben sie in Deutschland zum Beispiel seit ihrem Beginn im Frühjahr 2020 ein halbes Jahr unter gesetzlichen Schliessungen oder Einschränkungen gelebt.
Die Auswirkungen sind verheerend. Vier von fünf der Kinder und Jugendlichen fühlen sich durch die Corona-Krise belastet. Sieben von zehn Kindern gaben im Winter 2020/21 eine geminderte Lebensqualität an. Fast jedes dritte Kind litt auch zehn Monate nach dem Beginn der Krise unter psychischen Auffälligkeiten. Sorgen und Ängste haben noch einmal zugenommen, auch depressive Symptome und psychosomatische Beschwerden sind verstärkt zu beobachten. Zwölf Prozent der Kinder und Jugendlichen befanden sich bereits 2019 aufgrund psychischer Erkrankungen in Behandlung. 2020 waren es nach dem ersten Halbjahr bereits rund acht Prozent mehr. Dabei sind in den Industrieländern bis zu 50 Prozent der psychischen Erkrankungen unbehandelt geblieben. In den Entwicklungsländern sind es sogar rund 80 Prozent!
Zehnmal mehr Kinder als vor 2020 machen überhaupt keinen Sport mehr. Parallel dazu verbrachten im Winter 2021 die Kinder noch mehr Zeit als im Frühsommer 2020 an Handy, Tablet und Spielekonsole, wobei sie die digitalen Medien jetzt häufiger für die Schule nutzten. Nach dem ersten Lockdown erhöhte sich die Nutzungszeit bei den Jugendlichen um 75 % auf 258 Minuten (mehr als 4 Stunden) täglich.

Die Unterschiede verstärkt

Ein verstärkter Medienkonsum geht auch mit Veränderungen von Essgewohnheiten einher und somit wächst das Risiko für Übergewicht und zugehörige Folgeerkrankungen. Auch die Eltern fühlen sich mittlerweile existenziell verunsichert (Arbeitsplatzverlust, finanzielle Unsicherheit), mit Homeoffice und gleichzeitiger 24-Stunden-Kinderbetreuung überlastet und zeigen vermehrt depressive Symptome. Dadurch kommt es zu einer gravierenden sozialen Spaltung: zwischen den «gut geschützten» Kindern aus jenen Familien, die trotz allem einen guten Zusammenhalt aufrechterhalten konnten und viel Zeit mit ihren Kindern verbringen, und den «schutzlosen» Kindern aus solchen Familien, die mit der Not-Situation nicht umgehen können. Kinder und Jugendliche sind aktuell vermehrt Armutsbedingungen und Misshandlung ausgesetzt. Die Kinderarbeit ist seit 2020 nach einem 20 Jahre anhaltenden Rückgang wieder am Zunehmen!
Es vergeht keine Woche, in der Pädagogen, Kinderärzte oder Organisationen, die im Namen des Kindeswohls tätig sind, nicht die Politiker zum Handeln aufrufen. Was jedoch m. E. noch sehr fehlt, sind konkrete und mutige Ideen zu einer Strategie, wie die Lage der Kinder und insbesondere der Jugendlichen nachhaltig verbessert werden soll.

Die Jugend braucht vor allem Sinn stiftende Erlebnisse

Die dringenden Appelle finden auch deswegen wenig Resonanz und brechen nur schwer die Erstarrung, Verängstigung, Einschüchterung, die sich breit gemacht hat, auf. Dabei betrifft diese Gesundheitskrise alle, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Alle, denen das Kindeswohl und die gesellschaftliche Zukunft ein Anliegen sind, müssen sich vor Augen führen, dass die Jugend heute insbesondere psychisch anregende, emotional erfüllende, gemeinschaftsbildende, Sinn stiftende Erlebnisse braucht.
Der bedeutende, vor einem Jahr verstorbene Kinderarzt Remo Largo wurde nicht müde, auf zwei zentrale Bildungsbereiche hinzuweisen, die für die Ausbildung einer gesunden Persönlichkeit unabdingbar sind: die menschliche Lebensgemeinschaft und die Natur. Bereits vor der Corona-Krise war Remo Largo sehr besorgt, dass infolge der Digitalisierung diese zwei zentralen Elemente einer echten Bildung wegbrechen. Die letzten Monate haben seinem Plädoyer eindeutig Recht gegeben und seine Aktualität und Unabdingbarkeit unterstrichen.
Die soziale Isolation und auch der Online-Unterricht trennen den jungen Menschen von seiner Umgebung und betonen die Einzelleistung. Ohne Begegnungen mit anderen Menschen entfremden sie sich von sich selber und schwächen schliesslich ihre seelische Gesundheit. Erst in der Interaktion mit anderen Menschen kann ihre Seele atmen und es wird ihnen auch ein heilsamer Spiegel vorgehalten, in dem sie sich selbst besser erkennen können oder durch den sie Anregungen zur Korrektur des eigenen Verhaltens und zur Entwicklung von sich selbst bekommen können.
Die Phasen der Schulschliessung haben gezeigt, wie schmerzhaft die Begegnung unter Gleichaltrigen vermisst wird. Mit dieser sozialen Komponente des Lernens in der Gruppe erzielt man unvergleichlich bessere Ergebnisse. Ähnliches ist über ein lebendiges, positives Lehrer-Schüler-Verhältnis zu sagen. Ohne eine solche Lehrer-Schüler-Beziehung erzielt man eher eine Schwächung der Persönlichkeit des Lernenden. So gehört es zum Beispiel zu den schönsten und positivsten Momenten des Jahres, wenn man gemeinsam Feste feiert. Sie hängen mit Besinnung, Entspannung, Begegnung, Heiterkeit und Austausch zusammen.

Reisen dürfen, in Bewegung kommen

Wofür man sich wieder ganz besonders intensiv einsetzen müsste, ist die Wiederaufnahme von Schüler- und Klassenkontakten im internationalen Massstab. Die neu errichteten äusseren und psychologischen Grenzen sind energisch aufzulösen. Die jungen Menschen bringen heute einen empathischen, interessierten, kosmopolitischen Geist auf die Welt mit, sie wollen reisen und müssen uneingeschränkt reisen dürfen. Die Schulen sollten mehr als vor 2020 den Schüleraustausch fördern. Ähnliches wäre über soziale Praktika oder Sprachaufenthalte im Ausland zu sagen. Internationale Jugendtagungen sollten solche Begegnungen ermöglichen.
Die Jugend braucht es, mit ihrem Leib in Bewegung zu kommen. Bewegungsspiele aller Art, sportliche Betätigung, vor allem kollektive sportliche Betätigung sind mit allen Mitteln zu unterstützen. Ein Gefühl von Gemeinschaft, Erfolgs- und Selbstüberwindungserlebnisse, Stressabbau oder zumindest -reduzierung entstehen, von den zahlreichen wesentlichen positiven körperlichen Effekten ganz zu schweigen.

Mit den Händen werken, Kunst schaffen

Nach einer Zeit der Ohnmacht und nach vielen Erlebnissen des passiven Ausgeliefert-Seins in der Corona-Krise ist es nötig, die Selbstwirksamkeit neu entdecken und erfahren zu dürfen.
Alles, was wir mit den Händen als den Organen des Handelns machen, wirkt in diesem Sinne. Praktische, aber vor allem auch künstlerische Übungen, Erfahrungen und Projekte sind Möglichkeiten, sich als aktives und kreatives Individuum zu erleben, das die Welt gestalten kann. Tanzkurse, Musikveranstaltungen, Theateraufführungen lösen den Jugendlichen von der Befangenheit in sich selbst und erfüllen ihn mit Freude. Was das Spielen in den früheren Jahren ist, ist die Arbeit später. In den Praktika erfahren die Jugendlichen einen sinnvollen, produktiven Arbeitszusammenhang, an dem viele Menschen beteiligt sind und zusammenarbeiten.
Die Kunst ist auch ein Mittel, um die Gefühle auf verschiedenste Art und Weise zu artikulieren, zum Ausdruck zu bringen. Das kann man z. B. mit dem ganzen Leib im Theater, im Tanz oder durch die Instrumentalmusik machen, das kann man durch die Sprache rezitierend und gesanglich tun, man kann es auch im Medium des Tones, durch gezeichnete Linien oder in der Fülle gemalter Farben.
Es gibt kaum etwas, was unsere Seelen mehr ins Lot bringt, als die Erlebnisse in der Natur. Wandern oder Langlaufen in den Bergen, Campen mit Zelt und Feuerstelle, ökologische Projekte am Strand, im Wald, auf dem Acker oder anderswo, eine Fahrrad- oder Kanutour, eine Segelfahrt.
Bei den Aufenthalten draussen kommt die Seele ganz neu in Bewegung und Schwung. Denken und Fühlen kommen wieder in Fluss, die Sinne werden belebt und angeregt. Man kommuniziert anders. Neue soziale Erfahrungen werden gesammelt. Man begegnet den Elementen: Licht, Luft, Wasser, Schnee, Eis und Erde.

Mit der Draussenschule experimentieren

Das Streicheln des Windes auf den Wangen, das Eintauchen der Hände in die Erde, das Schwimmen im Fluss, das Abtasten der Steine durch die Füsse auf dem Wanderweg. Regelmässige Klassenfahrten nicht nur jedes Jahr, sondern vielleicht sogar zwei- oder dreimal im Jahr. Jede Schule könnte jetzt mit der Draussenschule (Outdoor-Education) experimentieren und vielleicht eine Waldklasse einrichten, in der sich zumindest die Unterstufenklassen im Laufe der verschiedenen Wochentage abwechseln.
Welche Elemente des Unterrichts liessen sich nach draussen verlegen? Natürlich Geographie und naturkundliche Fächer. Vielleicht auch Sport, Malen, Fremdsprachen? Der Schulhof, der Schulgarten und das ganze Schulgelände könnten vielleicht neu betrachtet und vor allem neu ergriffen, gepflegt und gestaltet werden. Jeder/jede Klassenlehrer:in kann ein – und sei es noch so kleines – Projekt mit dem Gartenbaulehrer überlegen. Unzählige vielfältige Begegnungen mit Blumen, Bäumen und Tieren bereichern alle Beteiligten.

Die Jugend braucht Momente, die begeistern

Könnte nicht jede Schule einen Bauernhof «adoptieren»? Konzepte entwickeln, wie Familien, Klassen usw. kontinuierlich am Leben eines Bauernhofs teilnehmen, ihn unterstützen, Verantwortung für einen ausgewählten Bereich übernehmen? Die Zeiten des Forst- und Landwirtschaftspraktikums in der Oberstufe ausdehnen und vertiefen.
Die Jugend braucht in jedem Fach und jedem Unterricht Momente, die begeistern, die Freude, Hoffnung und Sinn vermitteln. Gelingt es, dass man neue Fächer schafft, in denen Zusammenhänge multiperspektivisch und interdisziplinär durch pädagogische Teams angeleitet entstehen werden? Insbesondere Fächer und Projekte wie z. B. Globalisierung oder Gesundheit von Mensch und Erde, die verschiedene Expertisen und Disziplinen vereinigen, können diese Maxime erfüllen. Nur die vom Schüler als begründet, nachvollziehbar und sinnvoll erlebten Unterrichtsangebote können ihn als Menschen berühren und verwandeln und machen damit aus dem blossen Lernen echte Bildung.
Wir wissen im Umkehrschluss heute auch ziemlich genau, was die Jugend nicht braucht. Sie braucht kein blosses Nachholen von Wissens- und Lerndefiziten und dem damit verbundenen Schulstress, kein Bulimielernen für die Abschlussprüfungen, keine Ausweitung von Online-Unterrichtsformaten mit vermeintlich effizienten Tutorials und scheinbar personalisierten Lernplattformen.
Die Jugendlichen brauchen Vorbilder und Entwicklungsbegleiter, welche die oben angedeuteten gesundheitsfördernden Qualitäten verstehen, schätzen und vorleben. An ihnen können sie sich orientieren. Wir haben die Zeit, in der m. E. ein unzulässiger Druck auf die Jugend ausgeübt wurde, nur zum Teil überwunden. Die Jugendlichen erhoffen sich unausgesprochen, dass Qualitäten von individueller Besonnenheit, entschiedenem Mut und an Idealen orientiertem sozialem Engagement bei Erwachsenen wahrnehmbar werden.

Für Gerechtigkeit und Chancengleichheit

Spätestens seit Erik Erikson kennen wir die Jugend als die Phase eines psychosozialen Moratoriums, also auch eines ganz besonders zu beachtenden Schutzraums. Es ist höchste Zeit, dass insbesondere die Kitas und Schulen wieder diese Rolle eines stabilen und zuverlässigen sozialen Schutzraums einnehmen. Sie haben die gesellschaftliche Aufgabe, die Grundlage der Gerechtigkeit und der Chancengleichheit zu bilden, und zwar sowohl im Sozialen wie auch im Hinblick auf die Gesundheitsentwicklung.
Durch die schulischen sozialen Beziehungen kann die Schule vor negativen psychischen Belastungen und teilweise auch negativen physischen Entwicklungen und Defiziten schützen. Eine echte humanistische Bildung, die den Menschen sowohl im kognitiven wie auch im musischen, ästhetischen, motorischen, moralischen, ökologischen und sozialen Bereich fördert, leistet zugleich einen zentralen Beitrag zum Sinn erfüllten Menschenleben und zur lebenslangen Gesundheit und wachsenden Resilienz.
Das Wohl und die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen in körperlicher, seelischer und sozialer Hinsicht müssten höchste Relevanz im Handeln von allen Erwachsenen bekommen, oberstes Ziel der Bildung und höchste Priorität der Politik werden.

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Dr. Tomáš Zdražil, Professor für schulische Gesundheitsförderung, Leitung des von Tessin-Zentrums für Gesundheit und Pädagogik