FondsGoetheanum: Pandemie

Die Natur zeigt uns den Weg

In meiner Heimat Frankreich hatten wir während fast drei Monaten einen strengen Lockdown. Unweigerlich fragte sich wohl jeder: Was ist mir wirklich wichtig? Und wie kann ich mich stärken, regenerieren?

Ich habe entdeckt, dass mir drei Dinge sehr wichtig waren, um mich physisch, psychisch und geistig gesund zu halten: eine gute, aufbauende und schmackhafte Nahrung in schöner Atmosphäre, der Kontakt mit der Natur, also hinausgehen zu können (Menschen in Paris haben z. B. Pflanzen auf dem Balkon gesät, um diesen Kontakt mit der Natur zu haben), und eine aufbauende sozial-kulturelle «Nahrung», sei es ein anregendes Gespräch, ein gutes Buch oder eine interessante Radiosendung. Ich habe entdeckt, dass Nahrung und Natur wie zwei Seiten einer Medaille sind: Die Nahrung verbindet die Natur mit dem Menschen.

Bewusst essen zeugt von Kultur

Sich ernähren ist der Höhepunkt eines langen Prozesses, der von beiden, Natur und Mensch, gestaltet und als Agri-Kultur, als Kultur an der Erde bezeichnet wird. Ohne Esser hätte die Landwirtschaft, die ganze Arbeit an der Erde nur wenig Sinn. Ich frage mich manchmal: Kann es sein, dass ich so schnell etwas esse, das so lange gebraucht hat, um ein Nahrungsmittel zu werden? Bringe ich dem Produkt die Wertschätzung entgegen, die ich mir selbst für mich wünsche?
Wenn wir den Weg einer Kulturpflanze von Anfang an verfolgen, sehen wir viele Schritte der Entwicklung und der Veredlung. So verbindet mich die einfache Tat des Essens mit den grossen Zusammenhängen der Natur und des Sozialen.

Der Weizen als Beispiel

Zuerst muss der Landwirt ein geeignetes Feld vorbereiten, die dem Standort angepasste Weizensorte aussäen und dann fast neun Monate, vom Herbst bis zum nächsten Sommer warten, den Weizen wachsen und reifen lassen.
Für die Qualität des Weizens sind die Anbaubedingen wichtig: Wird die Pflanze mit viel Kunstdünger gepuscht, um den maximalen Ertrag zu bekommen, oder darf sie sich in einer reich gegliederten Landschaft entwickeln, wo Kornblumen und Mohn wachsen dürfen, wo Hecken und Feldraine die Landschaft bereichern?

Nach der Ernte kommt die Preisfrage

Wenn der Weizen geerntet ist, wird er zu Ware, die der Landwirt verkaufen kann. Nach dem vom Landwirt gelenkten Naturprozess sind nun die Menschen die Hauptakteure und Gestalter: Der Weizen wird gemahlen und zu Brot gebacken. Dabei stellen sich zwei Fragen: Achten die Menschen dabei darauf, dass die ursprüngliche Substanzqualität im echten Sinne des Wortes weiterveredelt und damit erhalten wird? Und wird der Preis so gestaltet, dass jeder seine Bedürfnisse decken und davon leben kann?

Die Herkunft kennen

So wird aus dem Weizen ein nährendes Brot. Ich freue mich, zu wissen, dass der Weizen meines Brotes auf dem Demeterhof der Familie Krust gewachsen ist und dass der Bäcker Turlupain es gebacken hat. Hinter meinem Brot sehe ich konkrete Gesichter und Landschaften, mit denen ich mich verbinde und die ich auch gerne unterstütze. Ich habe bemerkt, dass diese Beziehung mich auch ernährt, mich seelisch erfüllt. Ich schmecke ihre Liebe im Produkt.
Der Mensch hat in der Vergangenheit eine wunderbare Vielfalt neuer Kulturpflanzensorten und neuer Tierrassen entwickelt. Er hat die Naturgrundlage veredelt. Die biodynamische und die biologische Landwirtschaft verfolgen diesen Weg weiter. Ernährung kann uns mit der Natur und den Menschen verbinden, wenn wir mit beiden «vertraut» sind. Dies hilft uns, die Würde des Essens neu zu entdecken.

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Jean-Michel Florin, Ökologe und Co-Leitung der Sektion für Landwirtschaft