FondsGoetheanum: Pandemie

Individuelle Resilienz ist entscheidender Faktor

Der Umgang mit der Krankheit und die Therapien verändern sich laufend. Dieser Beitrag ergänzt die grundlegenden Ausführungen auf dem ersten Artikel dieses Heftes (Mensch und Gesellschaft im Spiegel der Pandemie)

Wir alle wissen nicht, wie lange noch die Corona-Pandemie für vieles bestimmend sein wird. Zur Behandlung der Patienten jedoch kann die Medizin heute auf immer mehr der in vielen Ländern sehr gut dokumentierten Erfahrungen der letzten Monate zurückgreifen. Dabei zeigt sich: Mit unserem Verhalten können wir sehr wohl Einfluss auf Verlauf und Entwicklung nehmen.

 

Resilienz der Infizierten ist essenziell

Bei einer Infektion mit Covid-19 kommt es offenbar darauf an, wer, in welchem Alter, wann und wo mit dem Erreger in Kontakt gekommen ist. Schon lange weiss man, dass die Gesundheit und Widerstandsfähigkeit (Resilienz) des Infizierten eine grosse Rolle spielt: Viele machen eine Infektion mit dem Covid-Virus durch, ohne sichtbar zu erkranken, andere erkranken nur leicht.
Was die Behandlung betrifft, sind die schulmedizinischen Möglichkeiten begrenzt. Als Kinderarzt kenne ich die Sorge vor Infektionserkrankungen, für die es kein wirksames «Antibiotikum» gibt und auch keine zuverlässige Impfung. Und genau das ist bei Covid-19 der Fall und löst weltweit unter Ärzten sowie in der Bevölkerung grosse Ängste aus.
Doch es gibt in der Medizin nicht nur Anti-Mittel und Impfungen, sondern auch wirksame Möglichkeiten, die Widerstandsfähigkeit der Patienten zu stärken, selbst während der Krankheit. Schwere Verläufe von Covid-19, die ich in meinem Umfeld beobachtet habe, betrafen oft Menschen, deren Kräfte schon vor der Ansteckung erschöpft oder stark angegriffen waren. Die Erkrankung selbst greift intensiv Atmung und Kreislauf, unser «Rhythmisches System» an, und das können wir durch unsere Lebensweise und gezielte medizinische Vorbeugung und Behandlung stärken. Wichtig sind zum Beispiel genügend Schlaf und tägliche Bewegung an der frischen Luft.

Wir sind nicht machtlos ausgeliefert

Die Anthroposophische Medizin verknüpft schulmedizinische Kompetenz mit einer gezielten Förderung der Lebens- und Abwehrkräfte der Patienten und hat für Covid-19 international verfügbare ergänzende Vorbeugungs- und Behandlungskonzepte erarbeitet, die seit März 2020 kontinuierlich weiterentwickelt wurden(1).
Weltweit aufhorchen liess auch die Darstellung chinesischer Experten bei einem WHO-Hearing zur Komplementärmedizin bei Covid-19 Ende März 2020, woraus hervorging, dass in China rund 90 % aller Covid-Patienten ergänzend mit traditioneller chinesischer Medizin behandelt und dabei deutliche Erfolge erzielt wurden. Die von ihnen verwendeten pflanzlichen Bitterstoffe spielen auch in der Anthroposophischen Medizin eine wichtige Rolle.

Individuell angepasste Medizin verspricht Erfolg

Das Beste aus der Schulmedizin wie die intensivmedizinische Kompetenz zu verknüpfen mit ausgereifter Komplementärmedizin, die z. B. in der Behandlung von virusbedingten Lungenentzündungen mit naturbasierten Arzneimitteln und äusseren Anwendungen erfahren ist, bestätigt auch bei Covid-19 einen Trend, der heute für viele weltweit zunehmende Erkrankungen gilt. Eine auf den Erreger fixierte Medizin bedarf der Ergänzung durch eine menschen- und patientenbezogene Medizin, welche die individuellen Fähigkeiten und Schwächen des Patienten wahrnimmt und seine Gesundheit und Widerstandskraft gezielt zu fördern versteht.

Wie Antibiotikaproduktion zu Antibiotikaresistenz führt

Recherchen von deutschen Medien wie NDR, WDR und der «Süddeutschen Zeitung» berichten von bedrohlichen Zuständen in der Antibiotikaproduktion: «Rund um Fabriken in Indien, wo fast alle grossen Pharmakonzerne produzieren lassen, sind grosse Mengen an Antibiotika in der Umwelt. So entstehen gefährliche, resistente Erreger, die sich global ausbreiten. Weitaus die meisten Antibiotika werden in Südostasien unter nicht verantwortbaren Umständen hergestellt. Neben den Schäden für die Umwelt dort hat dies auch zur Folge, dass Touristen multiresistente Erreger in ihr Land zurückbringen.»
In der Schweiz verschärft das Problem zunehmender Antibiotikaresistenz von Bakterien die Anzahl, Häufigkeit und Länge antibiotischer Behandlungen in der Humanmedizin. Diese Situation ruft nach alternativen Konzepten, denn wir wollen auch in Zukunft schwer- und schwerstkranke Patienten wenn nötig wirksam antibiotisch behandeln können. Eine integrative Medizin – die Verbindung von Schul- und Komplementärmedizin –, wie sie beispielgebend in der Anthroposophischen Medizin entwickelt und praktiziert wird, trägt nachweislich(2) zu einem deutlich zurückhaltenderen Gebrauch von Antibiotika und anderen umweltbelastenden Arzneimitteln bei.

Massentierhaltung als Brutstätte multiresistenter Erreger

Eine wesentliche Quelle multiresistenter Erreger ist jedoch die industrielle Massentierhaltung, die überhaupt nur durch Antibiotika möglich ist. Als Humanmediziner müssen wir dringend den weitgehenden Verzicht auf Antibiotika in der Tierhaltung fordern, damit diese Medikamente beim Menschen in Zukunft noch wirksam sein können. Im Klartext gesprochen: Verzicht auf Massentierhaltung. Stattdessen Förderung einer ökologischen Landwirtschaft mit hoher Biodiversität und bodengebundener, respektvoller und artgemässer Tierhaltung.
Ebenso können aufgrund der das Tierwohl verletzenden, missachtenden Haltung und Tötung von Haus- und Wildtieren leichter gefährliche Viren auf den Menschen überspringen und Pandemien auslösen. Massenhaltung von Wildtieren gibt es auch in der EU: In Dänemark werden jedes Jahr 19 Millionen Nerze in einer grausamen Form von Gefangenschaft gehalten und für Pelzaccessoires getötet. Die Zustände in diesen Betrieben sind moralisch wie ökologisch untragbar. Die Auslösung einer nächsten Viruspandemie, die womöglich sehr viel gefährlicher verlaufen könnte als Covid-19, ist durch die Massentierhaltung sehr real. Deshalb ist es eine staatspolitische und gesamtwirtschaftliche Notwendigkeit, ökologischen Aspekten in der Landwirtschaft Priorität einzuräumen (siehe auch auf diesem Heft Wechselbeziehung Mensch und Tier).

Wohin weist der Blick in die Zukunft?

Er fordert eine gesamtheitliche Sichtweise, ein neues Wahrnehmen, Denken und Handeln. Ein wesentliches Ziel wird mit dem Schlagwort «One Health», eine Gesundheit, benannt. Es bedeutet, menschliche Gesundheit und Tiergesundheit gemeinsam zu achten und nachhaltig zu fördern. Ökologische Medizin erfordert bei jedem von uns ein Umdenken. Wenn wir Gesundheit nachhaltig fördern wollen, brauchen wir hier ein gemeinsames Leitbild, wie es vor 100 Jahren der Begründer der biologisch-dynamischen Landwirtschaft, der Waldorf-Pädagogik und der Anthroposophischen Medizin und Pharmazie, Rudolf Steiner, im Blick hatte.
Unsere heutige Lebensweise ist ihrem Wesen nach eine kriegerische, die Tiere und Pflanzen beherrschen will und vor allem den maximalen eigenen Nutzen im Auge hat. Es gilt, die wahren Kosten unserer heutigen weltweiten «westlichen» Lebensweise ins Auge zu fassen. Die Corona-Pandemie und der Lockdown zeigen uns eindrücklich, was passiert, wenn wir zuletzt selbst Opfer dieses Krieges gegen die Natur werden.

Gleichgewicht und Gerechtigkeit anstreben

Die ökologische Haltung strebt ein nachhaltiges Zusammenleben an. Ein Zusammenleben, das die Lebensbedürfnisse des anderen kennt und achtet, das Gleichgewicht und Gerechtigkeit anstrebt zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Natur. Die Schweiz hat Erfahrung darin, dass Frieden weiter führt als Krieg. Denken wir an unsere Kinder und Enkel: Eine Wende tut not, und jeder von uns kann dazu beitragen.

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Georg Soldner, Stv. Leitung der Medizinischen Sektion am Goetheanum

(1) Soldner, Georg, Breitkreuz, Thomas: Covid-19. Verfügbar unter https://www.anthromedics.org/PRA-0939-EN.
(2) Jeschke E. et al.: Verordnungsverhalten anthroposophisch orientierter Ärzte bei akuten Infektionen der oberen Atemwege. Forsch Komplementärmed 2007;17:207-215. https://doi.org/10.1159/000104171