FondsGoetheanum: Pandemie

Kosmos Schule mit neuem Stellenwert

Beim gemeinsamen Gestalten üben und erwerben wir Sozialkompetenz und Teamgeist

«Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihm nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen», so der optimistisch ermutigende Ausspruch von Max Frisch. Eine Krise macht schlagartig sichtbar, was sich lange schon unter der Oberfläche entwickelte. Sie ist ein Vergrösserungsglas, das hilft, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Schauen wir im Folgenden etwas genauer hin.

Blickt man unter dem Gesichtspunkt der Corona-Krise auf die Schule, fällt auf, wie essenziell der menschliche Kontakt zwischen Schülern und Lehrern einerseits und der soziale Kontakt unter den Gleichaltrigen, den Mitschülern andererseits ist. Jeder Lehrer wurde nach dem Lockdown überströmt von der Dankbarkeit seiner Schüler, die wieder in ihre Schule kommen durften. Die Schüler wurden motivierter, ruhiger, ja «braver» – die allgemeine Wertschätzung für die Klasse und die Schule als geteilten sozialen Raum stieg enorm.
Sensible Lehrer merkten: Es geht jetzt für jeden Schüler darum, aus seiner individuellen Welt, seiner Isolation auszubrechen und in den gemeinsam geteilten sozialen und seelischen Kosmos der Klasse einzutreten. Das Bewusstsein und die Wertschätzung für diesen einzigartigen, unverwechselbaren «Klassengeist» durch Spiele, durch gemeinsame künstlerische Aktivitäten, durch Projekte und Unternehmungen ist dadurch gewachsen.
Das Gleiche gilt auch für die Schule: Alles Klassenübergreifende wie Zirkus-, Sport- und Theater-AGs, Chöre und Orchester, Konzerte und Vorträge, Feste und Feiern – viel hängt von kreativen initiativen Lehrerpersönlichkeiten ab, nichts ist heute selbstverständlich. Ohne Mut und Initiative wird dieser geteilte soziale und seelische Lebens- und Erfahrungsraum der Schule leer bleiben oder sogar wegbrechen.

In der Natur fürs Leben lernen

In der Krise wuchs auch das Bewusstsein für den pädagogischen Stellenwert der Natur, z. B. im Sinne der Draussenschule (Outdoor Education). Da und dort packte man Leiterwagen voll mit Notizbüchern, Zeichenblöcken, Bällen, Springseilen und erwanderte gemeinsam die umliegenden Wälder, Seen, Bäche oder Ruinen. Oder man entdeckte die pädagogische Bedeutung des Schulgartens oder die eines Bauernhofs neu. Man darf hoffen, mit solchen Aktionen im Kleinen zur Behebung der globalen Entfremdung von der Natur, die unmittelbar zur Corona-Krise geführt hat, beigetragen zu haben. Die Schule ist auch ein Lebensraum, in dem alle Naturreiche ihren selbstverständlichen Platz haben.

Folgen der Schulschliessungen

Die soziale Isolierung schwächt jeden Menschen. Am meisten sieht man es bei den sogenannt schwachen Schülerinnern und Schülern. Insbesondere sie sind die Verlierer. Die bildungsfernen und sozial und ökonomisch schwachen Familien leiden unter den Folgen der Schulschliessungen am meisten. Aber auch die starken Schüler leiden, wenn auch weniger auffällig. Oft sind es die Jungs, die da besonders auf Unterstützung angewiesen sind, die sich leichter in der Isolierung verlieren. Man musste keine aufwendigen Untersuchungen durchführen, um zu überzeugen, wie unabdingbar das menschliche Miteinander für die psychische Gesundheit und wie problematisch die Vereinsamung für das Immunsystem ist. Die Schule ist eben als ein Raum der seelischen Gesundheit zu handhaben, nicht nur der physischen. Und durch die Isolation wird die Ausbildung der immunologischen Selbständigkeit der Kinder unterbunden.
In der Zeit von Social Distancing erlebte man hautnah, wie sehr das Lernen auf der zwischenmenschlichen Beziehung basiert. Vor dem Hintergrund der unumgänglichen intensiven Online-Kommunikation (E-Learning) und der Erfahrung damit ist es ein Labsal, einen echten Menschen aus Fleisch und Blut vor sich zu haben, mit ihm im Austausch zu sein.

Die Grenzen der Online-Kommunikation

Die Online-Technologien können unmöglich das komplizierte Gefüge winziger Muskelkontraktionen, insbesondere im Gesicht des anderen, die im realen Miteinander unbewusst wahrgenommen werden, übertragen. Diese sind aber für die Wahrnehmung der Gefühlsausdrücke und für das gegenseitige Verständnis unerlässlich. Bei den Videobildern ist dies nicht möglich, sie werden digital verändert und angepasst, die Verzerrungen und Verzögerungen mit sich bringen: Blockierung, Einfrieren, Unschärfe, Ruckeln und nicht synchronisierter Ton.
Diese – überwiegend auch unterhalb der Bewusstseinsschwelle verlaufenden Störungen und Irritationen – verwirren die körperliche Wahrnehmung und verdecken subtile soziale Signale. Unser Organismus versucht erfolglos, die Lücken der sozialen Wahrnehmung zu schliessen, was zu fein dosierten negativen, toxischen und sozial destruktiven Emotionen wie Verunsicherung, Angst, Misstrauen, Irritation, Wut und nicht zuletzt zur Erschöpfung führt.
Zwar wurde die Digitalisierung von Schule und Unterricht seit Jahren schon durch die Big-Tech-Unternehmen und ihre Verbündeten propagiert, erst jetzt aber konnten ihre Digitalisierungsstrategien und die darauf aufbauenden Geschäftsmodelle im Bildungswesen erstmalig flächendeckend in die Praxis eingeführt werden. Die Konfrontation mit der Erfahrung des praktisch über Nacht eingeführten Online-Unterrichts hat uns alle jedoch auch klar vor Augen geführt, dass er sich hinsichtlich seiner Lern-Effizienz nicht im Geringsten mit dem Unterricht durch eine Lehrperson vergleichen lässt. Diese Erfahrung stimmt hoffnungsvoll. Der Augsburger Erziehungswissenschaftler K. Zierer fasste in der «Neuen Zürcher Zeitung» zusammen: «Wer sich freut, dass die Welt der Bildung dank der Brachialgewalt der Corona-Krise endlich den Durchbruch zum Digitalen geschafft hat, ist auf dem Holzweg.»

Alte Werte, Neue Medien

Die elektronischen Medien haben viel Positives und sind heute nicht mehr aus unserem Leben wegzudenken. Was jedoch die Nutzung in der Pädagogik betrifft, machte die Corona-Krise deutlich, wie unbeholfen wir immer noch mit dem Internet umgehen, wie weit wir noch von einer souveränen, mündigen, kreativen Integration dieses Mediums in den Unterricht entfernt sind.
Viele von uns meinen immer noch, dass eine moderne Medienpädagogik der alte Unterricht mit den Neuen Medien sei. Medienpädagogik jedoch hat primär die Aufgabe, aufzuzeigen, wie der Mensch sich zu bilden hat, damit er sinnvoll mit Medien umgehen kann, welche Rahmenbedingungen zu beachten sind, wenn die Jugendlichen mit dem Internet umgehen. Aspekte wie Zeitmanagement, Selbstentwicklung und -hygiene oder die Regeln der Internet-Recherche … das haben die allerwenigsten Schulen mit ihren jugendlichen Schülern vor der Corona-Krise durchgenommen und geübt.
Wir nehmen der Krise den Beigeschmack der Katastrophe – um auf den eingangs zitierten Ausspruch zurückzukommen – wenn wir in Zukunft phantasievoll, mutig und konsequent im Sinne der in der Krise gewonnenen Erkenntnisse handeln.

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Prof. Dr. Tomáš Zdražil, Freie Hochschule Stuttgart