FondsGoetheanum: Pandemie

Mensch und Gesellschaft im Spiegel der Pandemie

Die Corona-Pandemie und ihre Folgen stellen Fragen an unser Verhältnis zur Natur und an uns selbst: Wie entwickeln wir einen achtsamen und würde-vollen Umgang mit den Naturreichen? Wie lernen wir verstehen, dass die Corona-Pandemie mit der Klima-Krise verbunden ist? Wie stärken wir uns selbst, sodass wir uns nicht nur als viral bedrohte Menschen erleben, sondern unsere Widerstandskraft und Gesundheit fördern? Und schliesslich: Wie gewinnen wir neue Perspektiven, die in eine gesunde Zukunft für Erde und Mensch führen?

Bereits der deutsche Forschungsreisende Humboldt machte vor etwa 200 Jahren auf den Zusammenhang zwischen menschlichen Eingriffen in die Natur und pandemischen Infektionskrankheiten aufmerksam. Die Gesundheit des Menschen ist ohne die Gesundheit der Erde nicht möglich. Es geht nicht nur um die Abholzung des Regenwaldes. Es geht nicht nur um eine ökologisch nicht zu rechtfertigende Landwirtschaft und das menschenverursachte Leid der Tiere und den Umgang mit Wildtieren. Gegenwärtig führt auch die Medizin zu einer immer dramatischeren Belastung der Umwelt: Während eine frühere Heilkunst ihre Heilmittel in den Naturreichen fand, werden sie gegenwärtig zur Kontrolle krankhafter Prozesse im menschlichen Organismus oftmals «konstruiert», «optimiert» und damit «designed».

Das Grundwasser als Sammelbecken von Arzneimitteln

Die so gewonnenen Arzneistoffe und ihre Abbauprodukte belasten in einem erheblichen Ausmass die Umwelt. So sind häufig eingesetzte Arzneimittel wie Schmerzmittel, Hormonpräparate, Antibiotika vielfach im Grundwasser nachweisbar und führen zur zunehmenden Belastung der Naturreiche mit gravierenden Folgen. Dazu gehört auch die wachsende Antibiotikaresistenz. Trotz der Segnungen der modernen Medizin bedarf es in der Medizin einer ökologischen Wende. Es braucht dringend eine Heilkunst, die das Gesundwerden des Menschen mit dem Gesundwerden der Erde verbindet.

Die Selbstheilungskräfte wecken und stärken

Jeder Patient erwartet durch die Medizin Besserung seiner Beschwerden. Das kann auf verschiedenen Wegen erreicht werden. Wir können Symptome verbessern, krankhafte Prozesse unterdrücken oder den Blutdruck einstellen. Diese Therapien setzen bei der Krankheit an und wollen sie unterdrücken. Auf der anderen Seite ist es eine alltägliche Erfahrung, dass wir auch gesund werden können. So gibt es für Covid-19 bislang kein einziges wirklich wirksames Arzneimittel, das diese virale Erkrankung beseitigt. Die grosse Zahl der wieder gesund gewordenen Covid-Patienten hat es dank ihrer Selbstheilungskräfte geschafft.
Die Pandemie weist damit auf eine Herausforderung der Medizin: Wir brauchen Therapien, die dem Menschen beim Gesundwerden helfen. Also nicht nur solche, die Krankheit unterdrücken oder einstellen, sondern auch Therapien, die Gesundungskräfte fördern. Hier zeigt die therapeutische Landkarte noch grosse weisse Flächen, die es zu füllen gilt. Wir brauchen gerade gegenwärtig eine Besinnung auf Möglichkeiten, die uns in der Prophylaxe stärken und im Gesundwerden helfen, damit wir vom wehrlosen Opfer einer Pandemie zum aktiv Handelnden werden. Und das hat bereits positive Auswirkungen, denn das Umgekehrte, die Angst, ist auch hier ein schlechter Ratgeber und vermindert unsere immunologische Leistungsfähigkeit.

«Liebe ist die grösste Arznei»

Damit werden Fragen an die Medizin, aber genauso auch an uns selbst gestellt. Wie können wir selber unsere Gesundungskräfte verstärken? Schon lange ist bekannt, dass Heilungskräfte durch gesunde zwischenmenschliche Beziehungen gefördert werden. Umgekehrt wirken sich soziale Spannungen und Isolation negativ aus. So kennen wir Zusammenhänge von Herz-Kreislauferkrankungen sowie Schlaganfall mit Stress und anderen seelischen Belastungen. Unser Gerinnungssystem antwortet auf das seelische Empfinden, reagiert auf Stress, Isolation und Depression. Ähnliche Zusammenhänge gelten auch für das Immunsystem. Zum Heilen braucht es menschliche Unterstützung, Hilfestellung und Wertschätzung. Auch im Social Distancing sind vertiefte, warmherzige Beziehungen zum anderen Menschen durch Interesse und liebevolle Zuwendung möglich. Liebe ist schon von Paracelsus als die grösste Arznei bezeichnet worden.

Die Augen öffnen für den andern

Die globale Corona-Pandemie fragt nach neuen Impulsen zur Geschwisterlichkeit, fragt nach Menschlichkeit, die atmen lässt. Wir können uns auf konkrete Hilfestellungen besinnen, z. B. ältere oder behinderte Menschen in der Nachbarschaft unterstützen oder die fördernde Patenschaft für ein Kind in Afrika übernehmen und ihm durch kleine Beiträge den Schulbesuch ermöglichen.
Um gesund zu werden, braucht es aber auch neue Perspektiven. Jeder Mensch lebt von biographischen Zielen und dem Wissen, «wie es weitergeht ». Er braucht diese Ausrichtung wie die tägliche Nahrung. Dabei gibt es kein «Zurück» in die Vergangenheit, sondern nur ein Entwickeln hin zu neuen Zielen, also der Zukunft entgegen. Viele Menschen leiden gegenwärtig an Orientierungslosigkeit, zweifeln an zukünftigen Perspektiven und fragen nach «inneren» Wegen, nach der Besinnung auf die Quellkräfte der Seele, nach Stille, Gebet, Meditation. Denn: «Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie», fasst es Viktor Frankl zusammen.
Einige Untersuchungen haben sich mit der Frage beschäftigt, ob und wie sich die Gesundungs- und Widerstandsfähigkeit, die Resilienzkräfte, steigern lassen. Dabei haben innere Werte, tragende Überzeugungen, Gebet und Meditation eine besondere Bedeutung. Denn sie mindern Stress, Anspannung, Angst und geben Kraft durch neue Orientierung. Häufig kommen gute, auch aus Not erlösende Gedanken in den Morgenstunden, also nach dem Schlaf. Eine derartige «Morgenstimmung » kann sich durch ein aktives «inneres» Leben entwickeln und neue Kräfte schenken, kann Nachdenklichkeit und Stille in der Seele erzeugen, sie zum Lauschen befähigen und für Neues öffnen. Die Lautstärke des Alltags übertönt oftmals wesentliche, in der Seele verborgene Perspektiven. Diese können trotz dunkler Zukunftssorgen zu neuen Zielen und damit zum Licht am Ende des Tunnels führen.

 

Tätigkeiten, die uns erfüllen, stärken uns und unser Immunsystem

Inneres Leben führt aber auch «in die Mitte»: Durch Angst, Stress und alle anderen Formen seelischer Belastung geraten wir aus unserer Mitte, unserem Gleichgewicht und schwächen gleichermassen unseren Körper. Überwinden von Angst und Stress führt demgegenüber in die Mitte und erhöht unsere Selbstwirksamkeit, wir nehmen auch den anderen Menschen besser wahr: Stress, Ärger machen uns oftmals blind, führen bis zum «blinden Zorn». Demgegenüber öffnen sich die Augen für den anderen Menschen, wenn wir «in die Mitte » kommen. Unsere Beziehungen zum anderen Menschen, aber auch zur Natur, vertiefen sich. Denn: Man sieht nur mit dem Herzen gut – so die Botschaft von Saint-Exupéry in «Der kleine Prinz».
Schliesslich gibt es eine sprachliche Ähnlichkeit von Meditation mit dem lateinischen Wort «mederi», also dem Heilen. Das innere Leben steht nicht nur mit den Erkenntniskräften, sondern auch mit den heilenden Prozessen in Zusammenhang. Es kann den Menschen immer mehr zu seinem eigentlichen Wesen führen. Der deutsche Lyriker Angelus Silesius wies auf diesen Zusammenhang mit den Worten: «In jedem ruht ein Bild dess’, was er werden soll, solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll.» Dieses Bemühen schenkt nicht nur der Seele Frieden, sondern wirkt auch heilend auf den Körper.
Covid und seine Folgen rufen in diesem Sinne zu neuen Perspektiven und Aktivitäten auf. Wir brauchen ein neues, ganzheitliches Verständnis der Natur, das ihr geistig-spirituelles Wesen einschliesst, vertiefte Beziehungen zum anderen Menschen, die ihn in seiner unantastbaren Würde erkennen, sowie mitmenschliche Hilfeleistung und Unterstützung. Alles, was wir an Liebe und Geschwisterlichkeit entwickeln, schenkt Lebenskräfte. Alles, was wir dadurch an neuer Orientierung erlangen, gibt unserer Seele Gesundungskräfte und wirkt der lähmenden Angst entgegen.

Heilende Kräfte durch innere Aktivität

Wenn wir uns um einen Menschen mit Interesse kümmern – das hat man in der Palliativmedizin untersucht –, verbessert sich seine Prognose. Die Hinwendung und das liebevolle Interesse stärken Lebens- und Gesundungskräfte. Und ganz entscheidend ist die Hoffnung, die sich oft aus neuen Zielen und Perspektiven entwickelt, denn sie hat eine gesundende Rückwirkung auf unseren Körper. Menschen, die sich im vorgerückten Alter jünger fühlen als ihr biologisches Lebensalter, haben eine längere Lebenserwartung. Wir können nicht nur durch einen gesunden Lebensstil, sondern auch durch innere Aktivität heilende Kräfte entwickeln und die krankmachenden, immunschwächenden Auswirkungen von Orientierungsverlust, Isolation und ansteckender Angst verwandeln.
Und es gilt: Eine Pandemie als globale Herausforderung braucht nicht nur eine individuelle, sondern eine gemeinschaftliche Antwort, ein gesamtmenschheitliches Zusammenstehen und einen sorgsamen Umgang mit der Natur.

______________

Dr. med. Matthias Girke, Leitung der Medizinischen Sektion am Goetheanum

(1) Bakitas MA., Tosteson TD, Li Z et al. Early Versus Delayed Initiation of Concurrent Palliative Oncology Care: Patient Outcomes in the ENABLE III Randomized Controlled Trial. Journal of Clinical Oncology 2015; 33(13):1438-1445. DOI: 10.1200/JCO.2014.58.6362

(2) Levy BR, Slade MD, Kunkel SR.Kasl SV. Longevity increased by positive self-perceptions of aging. Journal of Personality and Social Psychology 2002;83(2):261-270. DOI: 10.1037//0022-3514.83.2.261