Der steinige Weg zum glücklichen Wein
Das Dorf Fully liegt zu Füssen von steinigen Rebbergen. Das Gelände ist zu steil für Strassen. Für die Materialtransporte sind Seilbahnen installiert. Auf 13 Hektaren dieses Geländes wachsen die Reben der Winzerin Marie-Thérèse Chappaz. Biodynamisch, und das nach Umwegen und Tiefschlägen.
Eigentlich wollte Frau Chappaz Hebamme werden, auf Französisch «sagefemme », wörtlich auf deutsch übersetzt «weise Frau». Aber da war das Angebot der Familie, 1,2 Hektaren Reben zu übernehmen. Sie entschied sich für die Reben. Sie musste sich in den Weinbau einarbeiten. Alle anfallenden Arbeiten erledigte sie selbst. Die älteren Winzer hatten Achtung vor dieser jungen, tatkräftigen Frau und unterstützten sie mit praktischen Ratschlägen.
Die Winzerin litt mit ihren Reben mit
Marie-Thérèse Chappaz liebt Pflanzen, das ist auch rund um ihr Haus in den Reben zu spüren. Mit der sensiblen Rebe ist sie eng verbunden. Deshalb brauchte das Ausbringen der notwendigen chemischen Mittel jedes Mal innere Überwindung. Sie spürte, dass diese die Lebenskräfte der Reben schwächen. Es war für sie fast unerträglich, dass sie das ihren Reben antun musste. Sie sah jedoch keinen anderen Weg.
Im Jahre 1997 besuchte sie einen Kollegen im Burgund. Zufällig war ein Berater auf dem Weingut, der im Verlaufe des Tages einen Vortrag über biologisch-dynamischen Rebbau hielt. Er zeigte auf, dass mit den biologisch-dynamischen Präparaten, gutem Kompost und weiteren Massnahmen auf chemische Mittel verzichtet werden kann. Als Marie-Thérèse von dieser Möglichkeit hörte, war es, als würde die Sonne aufgehen. In diesem Moment war ihr klar, dass sie ihre Reben ab sofort nur noch so pflegen werde. Sie engagierte den Berater. Er sagte ihr, was sie wann und wie tun musste, und sie führte es mit grosser Hingabe aus. Jetzt endlich hatte sie ihren Reben gegenüber kein schlechtes Gewissen mehr.
Die Schwierigkeiten des neuen Wegs
Sie musste erleben und mitleiden, dass es ihren Reben nicht so gut ging, wie sie gehofft hatte, dass sie gestresst waren, ja, dass es ihnen schlechter ging als vorher. Insbesondere die in den 1970er Jahren gepflanzten Reben hatten in dieser ersten Phase grosse Probleme. Den in den 1920er und 1930er Jahren gepflanzten Reben ging es besser, denn zu dieser Zeit wurde noch kaum Kunstdünger eingesetzt, und ihre Wurzeln reichten deshalb tiefer in die Erde, lagen nicht so nahe an der Oberfläche. Ein Zurück kam für sie jedoch nicht in Frage, das konnte sie aus innerer Überzeugung nicht tun.
Die grosse Wende zum Besseren
In diesen ersten schwierigen Jahren wurde ihr Wein schlechter, weil sie die biodynamische Wirtschaftsweise agronomisch nicht genügend verstand und beherrschte, es fehlten ihr das grundlegende Wissen und die gute Praxis. Sie wollte unbedingt mehr darüber wissen. Im Jahre 2003 besuchte sie den ersten Einführungskurs für biodynamischen Rebbau in der Westschweiz – und meldete anschliessend den ganzen Betrieb zur Umstellung auf Demeter an. Dieser Kurs begeisterte sie. Er gab ihr die notwendigen Grundlagen. Sie erhielt Literaturhinweise, erfasste die Zusammenhänge, verstand, worauf sie achten musste, und insbesondere erwachten bei ihr grosses Interesse und Begeisterung für die biodynamischen Präparate.
Es braucht viel, bis die biodynamischen Präparate bei den Reben sind Sie hatte den Referenten des Einführungskurses, Pierre Masson, gefragt, ob er sie beraten würde, und er hatte zugestimmt. Beim ersten Besuch zeigte er ihr, wie sie die praktische Arbeit am effizientesten machen kann. Bei seinem Besuch im zweiten oder dritten Jahr standen sie im Rebberg und er fragte sie, wie oft sie denn die biodynamischen Präparate ausgebracht habe. Es war ein schwieriges Jahr gewesen, und sie antwortete, dass sie einfach keine Zeit gefunden hätte. «Hast Du denn in schwierigen Jahren auch keine Zeit für die Ernte», fragte der Berater. Diese Antwort war der Schlüssel für ihre seit Jahren intensive, gründliche und äusserst erfolgreiche Arbeit mit den biodynamischen Präparaten. Doch die Präparate in den steilen Hängen von Fully auszubringen, ist nicht nur physisch anstrengend, sondern erfordert auch eine sehr gute Planung: Mit Holz erwärmt sie zuerst das Quellwasser auf Körpertemperatur. Dann werden homöopathisch kleine Mengen der biodynamischen Präparate beigefügt und eine Stunde gerührt. Anschliessend füllt die Winzerin die Flüssigkeit in die Rückenspritzen. Diese werden den Berg hoch zu den Reben gebracht.
«Biodynamik erfordert aktives Wahrnehmen.»
Sie und ihre Mitarbeitenden schnallen sich je einen der Behälter auf den Rücken und versprühen je nach Präparat die Flüssigkeit auf die Reben oder den Boden, denn um eine gute Wirkung zu erzielen, sollten sie eine Stunde nach dem Rühren ausgebracht sein. Um die ganzen 13 Hektaren einmal zu spritzen, benötigt sie zusammen mit ihren Mitarbeitenden drei bis vier Tage. Die biodynamischen Spritzpräparate bringt sie pro Jahr insgesamt fünf bis sechs Mal aus.
Die Natur ist ein Organismus
Aus den Fehlern, die sie bis 2003 machte, lernte sie: Die Natur ist ein Ganzes, ein Organismus. Wenn man in der Bewirtschaftung des Rebbergs einen Parameter leicht verändert, muss man andere ebenfalls anpassen, sonst fällt das System aus dem Gleichgewicht. Sie kennt die verschiedenen Bodenbeschaffenheiten ihres Weinbergs sehr genau und setzt deshalb die weiteren biodynamischen Massnahmen wie z. B. Menge des Komposts auf den verschiedenen Parzellen individuell ein. Das aus ihren Fehlern erworbene Wissen gibt sie gerne an interessierte Umsteller weiter.
Schauen, geben, sich freuen
Ab dem Jahre 2003 erholten sich die Reben und wurden zusehends kräftiger. Es ist für sie wunderbar, zu sehen und zu erleben, wie sich ihre Reben seither entwickelt haben. Die Trauben sind heute etwas kleiner, aber von besserer Qualität. Und der Boden ist weicher und lockerer. Sie lernte, den Blick aufs Ganze zu richten, darauf zu achten, wie sich Pflanzen und Boden verändern und entwickeln. Die Biodynamik erfordert aktives Wahrnehmen, der Winzer muss fühlen, was Reben und Boden benötigen. Deshalb geht sie jeden Tag mit ihrem Hund durch ihren Rebberg.
Die biodynamischen Präparate haben grosse Wirkung. Das Hornmistpräparat hilft der Bodenentwicklung, das Hornkieselpräparat der Entwicklung der Blätter und der Trauben. Sie sind das Zentrale der biodynamischen Landwirtschaft, aber weitere Massnahmen gehören ebenfalls dazu, wie z. B. der biodynamische Kompost. Dazu ein Beispiel: Im Wallis enthalten die Böden viel Sand, aber wenig Ton, deshalb erodieren sie einerseits schneller und brauchen andererseits länger, um sich zu erholen. Im Wallis regnet es wenig und die Sonne brennt auf die steilen Hänge. Um den Boden zu schützen, bedeckt sie ihn unterhalb der Rebstöcke mit Stroh.
Begeisternde Geburtshelferin für den biodynamischen Weinbau
Mit der Biodynamik verändern sich Qualität und Geschmack des Weins. Früher machte sie einen Pinot aus Charrat und Chamoson. Heute kann sie es nicht mehr tun, denn der Geschmack des Terroirs der einzelnen Parzellen ist zu ausgeprägt. Deshalb bietet sie jetzt fünf verschiedene Sorten Pinot an.
«Was lange währte, wurde richtig gut.»
Marie-Thérèse Chappaz gehört zu den Pionieren des biodynamischen Weinbaus im Wallis. Sie ist für ihre Reben und den biodynamischen Weinbau eine «Hebamme» geworden. Ihr Können, ihr Wissen und ihr Verständnis für die ganzheitlichen Zusammenhänge der Natur, ihre Liebe zu den Reben sind begeisternd.
Sie schliesst das Gespräch mit den Worten: «So zu arbeiten macht viel Sinn, ich fühle mich getragen und immer wieder angeregt, es noch besser zu machen. Die Biodynamik ist etwas vom Wichtigsten, das mir im Leben begegnet ist.»
Das Gespräch wurde aufgezeichnet von Susanna Küffer Heer
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