FondsGoetheanum: Sozialtherapie und Heilpädagogik

Das­ ganze ­Wesen ­sehen,­ nicht ­nur ­die ­Erscheinung

Menschen mit Behinderung sind nicht Empfänger von Mitleid oder gar nur geduldete Aussenseiter. Die anthro-posophische Heilpädagogik und Sozialtherapie betrachtet sie als selbstverständlichen und gleichberechtigten Teil unseres sozialen und kulturellen Lebens und unterstützt sie dabei, ihren eigenen Platz zu finden.

FondsGoetheanum: Sozialtherapie und Heilpädagogik
Aktiv sein erfordert Mut und bringt Freude. Die anthroposophische Heilpädagogik regt ganzheitlich dazu an. FOTO: MATTHIAS SPALINGER

Heilpädagogik: Kinder und Jugendliche in ihrer gesamten Entwicklung unterstützen

Früherziehung, Heilpädagogik im Kindergarten und in der Schule bilden den Rahmen, in dem die Entwicklung eines Kindes be-gleitet werden kann. Gute Heilpädagogik geht von den individuellen Entwicklungs-bedürfnissen eines Kindes aus. Kinder mit Entwicklungsver-zögerungen oder -beeinträch-tigungen brauchen eine Unterstützung, welche die besonderen Voraussetzungen eines jeden Kindes einbezieht. Sie geht von seiner Gesamtsituation, seinen Ressourcen und denen seiner Umgebung aus.

Zum Beispiel unterstützt sie Kinder darin, ihre Bewegung zu differenzieren, Sinneswahrnehmungen zu verarbeiten, sich über Sprache zu äussern, sich im Alltag zurechtzufinden und sich in soziale Zusammenhänge einzuleben.

Motor aller Entwicklungsprozesse ist der Dialog zwischen dem Kind und den  Menschen in seiner Umgebung. Auf irgendeine Weise bringt jedes Kind sich aktiv in diesen Dialog ein. Deshalb verfolgt die anthroposophische Heilpädagogik immer einen ganzheitlichen Ansatz, um die Entwicklung aus vielen und unterschiedlichen Richtungen anzuregen.

Das ist die Grundlage dafür, dass auch Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf den Bezug zur Welt und – nicht weniger wichtig – zu sich selbst entwickeln können. Mit anderen Kindern gemeinsam zu lernen, bedeutet immer auch, sich selbst kennen zu lernen, sich in eine Gemeinschaft einzuleben, sich zu eigenem Handeln ermutigen zu lassen, an Widerständen zu wachsen, Begrenzungen zu tolerieren und annehmen zu können. Immer mit dem Ziel, dass das Kind in seiner Entwicklung voranschreiten kann.

Die anthroposophische Heilpädagogik hat dafür viele Unterstützungsmöglichkeiten entwickelt:
Sie wirkt mit den jeweils besonderen Möglichkeiten von Pädagogik und Heilpädagogik. Eine konstitutionell wirksame ärztliche Behandlung mit anthroposophischen Heilmitteln kann die Entwicklungsprozesse entscheidend verbessern helfen. Hinzu kommen Heileurythmie, Sprachtherapie, Physiotherapie und andere Therapien. Ganz wichtig ist die Kunst als therapeutisches und pädagogisches Mittel. Die Gestaltung des täglichen Lebens, die Rhythmen in der Alltagsgestaltung und im Miterleben des natürlichen und kulturellen Jahreslaufs vermitteln Ordnung und Gestalt, lassen Lebensfreude entstehen und fordern zur Eigenaktivität heraus. Kindergarten und Schule werden dadurch zu Entwicklungsorten, an denen Kinder und Jugendliche ihre Persönlichkeit entfalten können.

Um ihnen dabei zu helfen, arbeiten Pädagogen, Mediziner und Therapeuten eng zusammen. Die geistes wissenschaftliche Menschenkunde der Anthroposophie schafft differenzierte Möglichkeiten, ein Kind aus interdisziplinärer Perspektive zu verstehen und individuelle Förder- und Entwicklungspläne erarbeiten zu können.

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Beeindruckende Fähigkeiten führen zu überzeugenden Produkten: Erzeugnisse aus sozialtherapeutischen Werkstätten brauchen keinen Mitleidsbonus.

Sozialtherapie: Barrieren in Köpfen und Herzen abbauen

Menschen mit Behinderung anzunehmen, sie als aktiv Mitgestaltende eines Gemeinwesens zu akzeptieren, lässt die Barrieren in den Köpfen und Herzen schwinden. Dazu leistet die anthroposophische Sozialtherapie seit vielen Jahren einen wichtigen Beitrag.

In ihren Lebensorten gestalten die zusammen arbeitenden oder zusammen lebenden Menschen mit Behinderung ihre eigene Arbeits- und Lebenswelt. Auch wenn sie dabei Unterstützung brauchen, ist es das Ziel, ihnen zu einem möglichst selbstbestimmten Leben in Gemeinschaft und Gesellschaft zu verhelfen.

Dies beginnt mit der Gestaltung der Lebens- und Wohnmöglichkeiten. Menschen mit Behinderung sind so individuell wie alle anderen Menschen auch. Deshalb brauchen sie ganz unterschiedliche Möglichkeiten, die ihren individuellen Bedürfnissen entsprechen: Wohnmodelle in einer geschützten Umgebung, begleitete Lebensformen in der kommunalen oder urbanen Umgebung, Zusammenleben in und mit einer Gruppe von Menschen, Leben als Single oder in Partnerschaft. Wohnformen sind Sozialformen – sie entscheiden in einem hohen Mass über Integration und Einbezug, über Teilhabe oder Isolation.

Menschen mit Behinderung verfügen sehr häufig über beeindruckende persönliche Ressourcen. Auch wenn sie in manchen Bereichen grossen Hilfebedarf haben, können sie in anderen zu besonderen Leistungen fähig sein. Das kann sich z.B. im Arbeitsbereich zeigen: Die Produkte, welche die sozialtherapeutischen Werkstätten verlassen, brauchen keinen Mitleidsbonus –  sie überzeugen durch ihre künstlerische Gestaltung und ihren hohen Gebrauchswert. Viele der Arbeitsstätten leisten über ihren unmittelbaren Auftrag hinaus auch einen wichtigen Beitrag zum Schutz der Umwelt und zu einem besseren Verbraucherbewusstsein.

Eine angemessene Lebenswelt bietet mehr: In ihr kann sich ein Mensch auch an kulturellen und spirituellen Prozessen aktiv beteiligen. Jeder Mensch braucht Kultur, braucht Religiosität und Spiritualität, um nicht zu veröden. Jeder hat künstlerische Fähigkeiten, die er seinen Möglichkeiten entsprechend nutzen kann, mit denen er sich bildnerisch, musikalisch, schauspielerisch ausdrücken und verwirklichen kann.

Damit das Leben gelingt

Ein gelingendes Leben hängt von vielen Faktoren ab. Nicht zuletzt davon, ob Lebenskrisen und Lebensfragen zu Lösungen und Antworten führen, ob Beratung da ist, wenn man sie braucht. Dann können auch die schwierigen, schmerzhaften und kritischen Lebensereignisse nicht nur bewältigt, sondern auch als existenzieller Teil der eigenen biographischen Entwicklungsprozesse angenommen werden. Ausgangspunkt der biographischen Begegnung mit dem anderen Menschen ist in der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie die Annahme, dass jede Lebenssituation ihren eigenen Wert und ihre eigene Würde hat. Jeder Mensch wird als geistige Individualität verstanden, als Akteur des eigenen Lebens und nicht als Opfer von Umständen. Jeder bringt seine eigenen Entwicklungsbedingungen mit ins Leben ein, und die oft gegen grosse Widerstände erworbenen Fähigkeiten und Erfahrungen bleiben über den Tod hinaus fruchtbar. Auch wenn uns an anderen Menschen so vieles rätselhaft bleiben mag: Jedem Leben liegt ein tiefer Sinn zugrunde, der sich nicht im Hier und Jetzt erschöpft.

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Inspiriert vom anthroposophischen Menschenbild: Integrative Heilpädagogik kennt keine Ausgrenzung.

Heilpädagogen und Sozialtherapeuten als Begleiter 

 

Wie jeder andere brauchen auch Menschen mit Behinderung Unterstützung – Menschen, die sie beraten, begleiten, unterstützen, ihnen heilpädagogische und sozialtherapeutische Hilfen zur Verfügung stellen und auch ihre Eltern und Angehörigen beratend und unterstützend einbeziehen.

Heilpädagogen und Sozialtherapeuten, die auf anthroposophischer Grundlage arbeiten, erwerben ihre Berufsqualifikationen in einem mehrjährigen Ausbildungsgang, in dem sie die fachlichen, persönlichen und sozialen Kompetenzen erwerben, die man für diesen Beruf braucht. Es ist ein Beruf, der die alltäglichen Aufgaben mit den denkbar weitesten Fragen verbindet. Man muss kompetent werden in Fragen der Alltagsbewältigung, Pflege und Begleitung, man muss eine dem individuellen Gegenüber entsprechende Haltung finden können und ein Menschenverständnis entwickeln, das ethischen, diagnostischen und sozialen Herausforderungen gewachsen ist.

Nachbarn werden

Mindestens so wichtig wie fachliche Unterstützung ist die soziale Annahme von Menschen, die mit einer Behinderung leben. Es ist kein weiter Weg: Statt verlegen auf die Seite zu schauen, dem anderen ins Auge zu blicken, sich von seinem ungewohnten Aussehen oder ungewöhnlichen Verhalten nicht behindern zu lassen und ihn als Allererstes als ein Kind oder einen Erwachsenen zu sehen, als Nachbarn und Mitmenschen, vielleicht auch als Freund.

Rüdiger Grimm

Chinderhus Wanja – Beispiel für den integrativen Ansatz

In Ebikon LU gibt es seit 1999 das Chinderhus Wanja als integratives Angebot für sogenannt «normale» und sogenannt «besondere» Kinder.

Im integrativen Kindergarten ist es für Kinder mit Behinderungen selbstverständlich, dass es keine Ausgrenzung gibt. Das ist auch für ihre Eltern eine Wohltat.

Spezielle Begleitung für spezielle Bedürfnisse
Integrative Pädagogik und Heilpädagogik im Chinderhus Wanja sind inspiriert vom anthroposophischen Menschenverständnis. Das heisst, jedes Kind hat

  • einen unverwechselbaren, gesunden Kern, diesen gilt es zu achten und anzusprechen;
  • grundlegende Bedürfnisse nach Sicherheit, Pflege, Ernährung;
  • seinem Lebensalter entsprechende Erfordernisse;
  • individuelle Bedürfnisse je nach Behinderungen und Begabungen.

Im Chinderhus Wanja werden Kinder mit verschiedenster Begabung/Behinderung im Vorschulalter betreut. Künstlerischen Fächern wird viel Zeit eingeräumt. Den «besonderen» Kindern kommt entgegen, während längerer Zeit kontinuierlich und vertieft an einem Thema arbeiten zu können.

Grenzen der Integration
Integration hat auch ihre Grenzen. Ein Kind, das zuviel Einzelbetreuung und Aufmerksamkeit benötigt, sich nicht wohl fühlt in seiner Klasse, die Gruppe und/oder die Lehrkraft überfordert, braucht den kleinen, geschützten Rahmen einer heilpädagogischen Schule. Dort wird es besonders achtsam individuell gefördert und betreut.

Rosmarie Hammer