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Ausgewählte Artikel und Manuskripte

Johannes Kühl (2015): Metamorphose & Evolution. 100 Jahre Glashaus

Das Glashaus wurde für die Kunst geschaffen und gab der Naturwissenschaft seit 1920 eine Heimat. Seither wird hier experimentiert, geforscht und publiziert – mit unterschiedlichen Fragestellungen, die Johannes Kühl in seinem Artikel beschreibt. (Erweiterte Version des Artikels aus dem Goetheanum, Nr. 1-2, 2015)

 

»Jahresbericht 2015 des Forschungsinstituts am Goetheanum

Genetik/ Gentechnologie

Das menschliche Genom

Schon seit langem sind für das menschliche Genom die verschiedensten Bezeichnungen kreiert worden. Die Initiatoren des Projektes erhoben das Genom verklärend zum Buch des Lebens oder gar zum heiligen Gral der Biologie. Angesichts der gesellschaftlichen Brisanz dieses Projektes lancierte die UNESCO eine Initiative, um das menschliche Genom zum Erbe der Menschheit zu erklären – ähnlich wie z.B. die Pyramiden von Gizeh. Seit der Ankündigung von Craig Venter dass seine Firma Celera Genomics 99 Prozent des menschlichen Genoms sequenziert habe, äussern sich namhafte Genetiker zurückhaltender: Die Erbsubstanz des Menschen wird etwa mit einem Katalog, einer Landkarte oder einer unbekannten Sprache verglichen, bei der zwar die Buchstaben und einzelne Wörter bekannt, der sprachliche Kontext aber noch verborgen ist.

Noch sind die Tausenden von Sequenzen, die mit der Zufallsmethode „Shot-guns“ kloniert worden sind, nicht geordnet. Noch müssen mit komplizierten Programmen und Computern mit hoher Rechenleistung die riesigen Datenmengen verglichen, aneinandergereiht und den 46 Chromosomen zugeordnet werden. Die Bescheidenheit, mit der im Vergleich zu den euphorischen Anfängen des Projektes das menschliche Genom heute bezeichnet wird, macht deutlich, dass tiefgreifende Einsichten in seine Struktur und Wirkensweise ausstehen.

Der an Hysterie grenzende Aufruhr in der Weltpresse ist ähnlich wie bei Börsengeschäften vor allem mit den Erwartungen an die medizinische und pharmazeutische Verwertung der Sequenzen verknüpft. Nicht von ungefähr hat Venter Geschäftsführer von Celera Genomics die Gunst der Stunde genutzt und die Aktien seiner Firma in die Höhe getrieben, nachdem sie zuvor durch eine gemeinsam abgegebene Erklärung des britischen Premiers Blair und des amerikanischen Präsidenten Clinton einen markanten Dämpfer erlitten hatten. Mit Nachdruck haben die beiden Staatschefs verlangt, dass Gensequenzen der menschlichen Erbsubstanz allen Forschern im öffentlichen und privaten Sektor ohne Einschränkung zur Verfügung stehen und Monopolansprüche verhindert werden müssten.

Bereits hat Venter 6500 Patente auf ebenso viele Sequenzen angemeldet, damit mögliche medizinisch oder pharmazeutisch verwertbare Anwendungen in den Händen seiner Firma bleiben oder mit Lizenzgebühren belegt werden können. Nicht Erfindergeist sondern der Zugriff auf die menschliche Erbsubstanz soll patentrechtlich gesichert werden; nicht neue Erkenntnisse haben zur weltweiten Euphorie geführt sondern die Aussicht, bald mit grossem finanziellem Gewinn menschliche Krankheiten und Gebrechen zu diagnostizieren und zu therapieren.

Bereits heute können auf einem Chip mit 40‘000 verschiedene Gensequenzen im Schnellverfahren ebenso viele Erbfaktoren untersucht werden. Die Zahl von pränatal und nachgeburtlich feststellbaren genetischen Abnormalitäten oder Unterschieden in der Genexpression wird dadurch gewaltig gesteigert. Genomics heisst diese Technologie, die in Zukunft erlauben wird, komplexe genetische Veränderungen z.B. bei Krebs oder psychischen Erkrankungen nachzuweisen oder die Verträglichkeit und Effektivität von medikamentösen Behandlungen am einzelnen Patienten zu bestimmen. Dass dabei Patientenrechte und die Würde des Menschen zugunsten seiner genetischen Konstitution auf der Strecke zu bleiben drohen, liegt auf der Hand. Wer garantiert, dass in Zukunft nicht Genomanalysen in immer grösserem Ausmass über das Schicksal von Ungeborenen entscheiden, oder dass Berufswünsche und berufliche Karrieren nicht auf Grund der vorhandenen Fähigkeiten und gezeigten Leistungen sondern mit Hilfe von Gentests beurteilt werden?

Die Dynamik der molekulargenetischen Forschung und die Macht des wirtschaftlichen Profits brauchen Gegengewichte, durch die die Autonomie des Einzelnen, ihr Schutz und ihre Entwicklung garantiert werden. Es ist ausserordentlich zu begrüssen, dass gerade unter Wissenschaftlern selber solche Einsichten wachsen. Die Ausdrücke, die das menschliche Genom als Landkarte, Katalog oder unbekannte Sprache bezeichnen, sind Vorboten dafür, weil solche Bezeichnungen darauf hinweisen, dass es jemanden geben muss, der die Karte liest, den Katalog durchmustert oder die Sprache spricht. Axel Kahn, Direktor am Inserm in Paris und Mitglied des französischen Ethik-Komitees, hat in „Le Monde“ vom 15.Februar 2000 in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, dass die Suche nach dem Wesen des Menschen (l’essence humaine) in der Erbsubstanz erfolglos bleiben muss, weil sie in ihrer unübersehbaren Ähnlichkeit mit den Genomen aller anderen Organismen die menschliche Besonderheit verneint. Deshalb steht für ihn ausser Zweifel, dass der Mythos, der Mensch sei Gefangener seiner Gene, eine ideologische Bedrohung darstellt.

Ist Kahns Aufruf zu einem moralischen Engagement in der Genomforschung nicht ein Appell an anthroposophische Ärzte und Wissenschaftler, den Entwurf eines Bild des Menschen in die gesellschaftliche Diskussion einzubringen, das den Zugang zur „essence humaine“ erschliesst und in ihm den Leser der Genom-Karte und des Gen-Katalogs nachvollziehbar erleben lässt?

Johannes Wirz (2004)