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Kurzbeiträge der Teilnehmer

Wir möchten ein Forum bieten, um sich über die Ideen, Interpretationen und Ergebnisse auszutauschen, mit denen heutige Morphologinnen/Morphologen arbeiten. Was heisst goetheanistisches Forschen? Neben Vorträgen und Gruppendiskussionen gibt es Zeit für kurze mündliche Beiträge aus allen angrenzenden Themengebieten wie Pflanzen-, Tier- und menschliche Morphologie.

Format: 20 Minuten (ca. 15 Min. Präsentation und 5 Min. Diskussion).
Der Beitrag kann in deutsch oder englisch gehalten werden.

»Wir freuen uns über die Anmeldung von Kurzpräsentationen bis 1. Juli 2017.

Genetik/ Gentechnologie

Goethes Biologie des Lebendigen

Goethe wird in „Nature“[i] und in „Die Zeit“[ii] einmal mehr, diesmal von Henry Gee, als Vordenker der modernen Biologie gefeiert. Ähnlich wie Ernst Haeckel im vorletzten Jahrhundert den Dichter als Vordenker der darwinistischen Evolutionstheorie bejubelt hat, betrachtet Gee ihn als Wissenschaftler, der die Ergebnisse der molekularen Genetik und der Genomprojekte konzeptionell vorweggenommen hat. Müssten wir Goetheanisten uns nicht freuen über die unerwartete Publizität unseres Helden? Wird die Goethesche Organik nach vehementer Ablehnung wie z.B. durch den Evolutionsbiologen Ernst Mayr[iii] wissenschaftsfähig? Oder bedeutet die Lobrede auf Goethe gar die Anerkennung der goetheanistischen Naturwissenschaft? Die Antwort auf alle Fragen lautet ernüchternd nein.

Ich will damit keineswegs behaupten, dass Goethe sich nicht gefreut hätte an der modernen Genetik, die eindeutig nachweist, dass alle Blütenorgane – Kelch- und Kronblätter, Staubgefässe und Stempel mit Fruchtknoten - in grüne Blätter umgewandelt werden können und damit seine „These“, dass alles Blatt sei, restlos bestätigt. Und ich gehe mit vielen Molekulargenetikern einig, dass durch die Ergebnisse der Genomforschung deutlicher als je zuvor die „Einheit des Lebens“ zur sicheren, beweisbaren Tatsache wird.

Ganz sicher falsch ist jedoch die Unterstellung von Gee, dass Goethes Morphologie als „Wissenschaft der reinen Form“ auf „Genanhäufungen, die zusammenwirken“ hinweist. Und unverschämt scheint mir der Schluss des Autors, dass „...die Form eines Organismus als einzige, einheitliche Eigenschaft gesehen werden [kann], die von den Interaktionen all ihrer Gene bestimmt wird“. Man braucht nicht die Grundlinien von Rudolf Steiner gelesen zu haben, um sich zu überzeugen, dass das Gegenteil der Fall ist. Goethe selber hat darauf hingewiesen, dass seine Biologie des Lebendigen sich auf eine andere Methode als die der Physik abstützt und dass die organischen Formen ohne die Idee des Typus nicht beschrieben werden können. Ohne die produktive Kraft dieser Idee gäbe es keine biologische Gestalt. Durch Gene und Vererbung wird lediglich ihre Potenz, eine Formenvielfalt hervorzubringen, eingeschränkt. Unmissverständlich formuliert Goethe, „... wie die Materie nie ohne Geist, so auch der Geist nie ohne die Materie existieren und wirksam sein kann“.[iv]

Gees Popularisierung von Goethes Leistungen als Naturwissenschaftler verdeckt den geistigen Gehalt seiner Auffassung der organischen Natur. In der Folge drohen sowohl die Genialität, mit der Goethe eine dem Lebendigen entsprechende Wissenschaftsmethode ausgearbeitet hat, als auch ein sicherer und gangbarer Weg zur spirituellen Erweiterung der Wissenschaften verloren zu gehen. Der indische Kulturwissenschaftler und Soziologe Uberoi hat diesen Sachverhalt klar beschrieben: „Allerdings (...) erfolgt [die] Einbeziehung der Goetheschen Morphologie in den Kanon der etablierten Wissenschaft um den Preis der Unterdrückung der in ihr enthaltenen Philosophie des Lebendigen“[v].

Aus den bisherigen Ausführungen dürfen nicht falsche Schlüsse gezogen werden. Ich plädiere nicht dafür, Goethe und Goetheanismus aus den konventionellen Naturwissenschaften herauszuhalten. Ich meine aber, dass jede Präsentation in der Öffentlichkeit von einer Darstellung der wissenschaftlichen Methode begleitet sein muss, aus der hervorgeht, dass trotz möglicher Ähnlichkeit mit Ergebnissen konventioneller Forschung Ziel der goetheanistischen Wissenschaft nicht Beherrschung der Natur sondern Anteilnahme an ihr, nicht technische Umsetzbarkeit des Wissens sondern Spiritualisierung des Denkens ist [vi]. Und ich wünsche mir, dass wenn Goethes naturwissenschaftliche Leistungen gewürdigt werden, auch zur Sprache kommt aus welcher Gesinnung heraus er gearbeitet hat. In seiner Weise vorbildlich hat es Adolf Portmann ausgedrückt [vii]: „... gerade die Forscher, welche um eine produktive Eingliederung der heutigen Naturforschung in eine neue, noch zu schaffende Gesellschaftsordnung ringen, gerade sie werden die Haltung Goethes in tiefer Ergriffenheit in ihrem wahren Wert erkennen, eine Haltung, die, vom zentralen Motiv der Ehrfurcht geleitet, die Entsagung, den Verzicht auf den zerstörenden Eingriff durchführt. Sie verwirklicht, sie predigt nicht bloss eine Art von Gewaltlosigkeit in der Naturforschung, der niemand Grösse absprechen, niemand die innerste Hochachtung versagen kann“.

Johannes Wirz 

[i] Of Goethe, genomes and how babies are made, www.nature.com

[ii] Goethe und das Genom, 18. Mai 2000

[iii] in: Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt. Springer Verlag, 1984

[iv] Brief an Kanzler Müller vom 19. Mai 1828; zitiert aus: Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, herausgegeben von R. Steiner. Rudolf Steiner Verlag, 1975

[v] Der andere Geist Europas. Goethe und die Zukunft der Naturwissenschaften. Verlag die Pforte, 1999

[vi] siehe z.B. meinen Aufsatz „Typusidee und Genetik“ in: Goethe und die Naturwissenschaften (Verlag Paul Haupt, im Druck)

[vii] Goethes Naturforschung. In: Biologie und Geist. Suhrkamp Taschenbuch, 1973