Themen

Anthroposophische Pädagogik

Rudolf Steiners Kurs im Berner Rathaus

von Peter Selg

Im Großratssaal des Berner Rathauses hielt Rudolf Steiner in der Karwoche des Jahres 1924 einen seiner letzten großen, öffentlichen Kurse zu Erziehungsfragen der Gegenwart und Zukunft – «Anthroposophische Pädagogik und ihre Voraussetzungen». Der Kurs war folgenreich; er führte nicht nur zu einer ersten Waldorfschulgründung in der Schweiz, sondern erreichte auch Pädagogen, die in staatlichen Schulen arbeiteten – und Menschen, die Steiner zum ersten Mal hörten, darunter den bedeutenden Pfarrer, Philosophen und späteren Professor für Ethik an der theologischen Fakultät der Universität Bern, Friedrich Eymann.

Die Studie beleuchtet die Entstehungsumstände und die Dynamik des Kurses im Zusammenhang der pädagogischen Bewegung, die mit dem Goetheanum seit seiner Eröffnung im Herbst 1920 verbunden war. Sie geht des Weiteren auf den Schicksals-(Karma-)Vortrag sowie die esoterische Stunde ein, die Rudolf Steiner für die anthroposophischen Gesellschafts- bzw. Hochschulmitglieder innerhalb der pädagogischen Tagung hielt. Deutlich wird, wie aufeinander bezogen die pädagogischen Inhalte und die Motive der internen Veranstaltungen waren; sie gehörten zusammen und bringen zum Vorschein, was Rudolf Steiner unter der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach verstand und mit der sogenannten Weihnachtstagung 1923/24 beabsichtigte und begann.

2015, 208 Seiten, 5 Abb., Broschur, ISBN 978-3-905919-64-6, CHF 29 / EUR 26

Entwicklungsgeschichte

Gründung der Freien Waldorfschule in Stuttgart 1919

Schulgebäude 1930

Im Rahmen der Aktivitäten zur Dreigliederung des sozialen Organismus nach dem Ersten Weltkrieg fasst der Betriebsrat der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in Stuttgart – angeregt durch den Inhaber Emil Molt – am 23. April 1919 den Entschluss, eine Schule für die Kinder der Fabrikarbeiter zu gründen und Rudolf Steiner zu bitten, deren pädagogische Leitung zu übernehmen.* – Emil Molt hatte sich schon länger durch Bildungskurse während der Arbeitszeit (u. a. mit Vorträgen und Kursen von Rudolf Steiner und Herbert Hahn), durch Erholungsheime, eine Werkszeitschrift („Waldorf-Nachrichten“) um die Bildung und Wohlfahrt der Arbeiter in seinem Unternehmen gekümmert. – Zwei Tage nach dem Beschluss des Betriebsrats entwickelt Rudolf Steiner gegenüber Emil Molt, E. A. Karl Stockmeyer und Herbert Hahn ein Schulkonzept, am 13. Mai liegt die ministerielle Genehmigung für den Schulbetrieb vor und am 30. Mai erwirbt Molt aus eigenen Mitteln ein geeignetes Gebäude, das ehemalige Restaurant „Uhlandshöhe“ in Stuttgart.

Aufgrund von Vorschlägen von E. A. Karl Stockmeyer und Rudolf Steiner wird das erste Lehrerkollegium zusammengestellt, dessen Lehrer im Durchschnitt 32 Jahre alt sind. Am 20. August beginnt Rudolf Steiner einen Schulungskurs für die angehenden Lehrer, der morgens einen Vortrag über „Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik“ (GA 293), einen weiteren Vortrag über methodisch-didaktische Fragen (GA 294) und am Nachmittag pädagogische Besprechungen in seminaristischer Form (GA 295) beinhaltet.

Am 7. September 1919 wird die Schule nach dieser fünfmonatigen Vorbereitung mit einer Feier eröffnet, eine Woche später beginnt der Unterricht für 256 Kinder in acht Klassen mit zwölf Lehrern: Elisabeth Baumann-Dollfus (Eurythmie), Paul Baumann (Musik, Turnen), Johannes Geyer (Klassenlehrer), Herbert Hahn (Deutsch, Geschichte, Französisch, Religion), Caroline von Heydebrand (5. Klasse, Fremdsprachen), Hertha Koegel (4. Klasse), Hannah Lang (3. Klasse), Leonie von Mirbach (1. Klasse), Friedrich Oehlschlegel (6. Klasse), Walter Johannes Stein (Vertretungen, Literatur, Geschichte), E. A. Karl Stockmeyer (7. und 8. Klasse) und Rudolf Treichler sen. (7. und 8. Klasse).

Im Laufe des ersten Schuljahres kommen hinzu: Elisabeth von Grunelius (Kindergarten, s.u.), Eugen Kolisko (Schularzt, Englisch, Naturkunde), Berta Molt (Handarbeit, Buchbinden), Edith Röhrle (Eurythmie), Helene Rommel (Handarbeit), Karl Schubert (Förderklasse) und Nora Stein von Baditz (Eurythmie); Friedrich Oehlschlegel scheidet aus.

Die „Freie Waldorfschule“ war von Emil Molt zunächst als Werksschule gedacht, die einerseits unterprivilegierten Kindern den Zugang zu grundlegender Bildung geben, andererseits die Möglichkeit der Verwirklichung von „freiem Geistesleben“ zeigen sollte.
Weitgehend unabhängig von staatlicher Bildungsnormierung oder wirtschaftlichen Zwängen soll die individuelle Einsicht der Lehrenden in Entwicklungsmöglichkeiten der Schüler die Grundlage der Unterrichtsgestaltung sein: „Nun, eine freie Schule ist diejenige, welche den Lehrenden und Erziehenden alles dasjenige ermöglicht, was sie aus ihrer Menschenerkenntnis heraus, aus ihrer Welterkenntnis heraus, aus ihrer Kinderliebe heraus unmittelbar für das Wesentliche halten […] wo die Lehrer eine ganz bestimmte, ihrem Wirken zugrunde liegende Erkenntnis haben von dem, wie ein Kind heranwächst, welche körperlichen, seelischen Kräfte in dem Kinde entwickelt werden müssen; wo der Lehrer das, was er jeden Tag und jede Stunde machen muss, aus dieser Menschenerkenntnis und aus seiner Kinderliebe heraus einrichten kann.“ (Rudolf Steiner, Ansprache während eines Elternabends am 9. Mai 1922, GA 298, S. 108) Methodische Neuheiten der Schule sind u. a. Koedukation von Mädchen und Jungen aller sozialen Schichten, Epochen-Unterricht, keine normierten Leistungsforderungen als qualifizierende Kriterien, verstärkte künstlerische Aktivitäten, Eurythmie, Handwerk und Handarbeit für Mädchen und Jungen, zwei Fremdsprachen von der ersten Klasse an, keine Schulbücher, kein Sitzenbleiben und ein Klassenlehrer, der seine Klasse von der ersten bis zur achten Klasse führt.

 

*Die Anfrage Emil Molts an Rudolf Steiner fällt auf vorbereiteten Boden. Rudolf Steiner ist seit seiner Tätigkeit als Nachhilfelehrer, Hauslehrer und Dozent an der Arbeiterbildungsschule in Berlin mit pädagogischer Praxis vertraut und hat verschiedentlich über Pädagogik vorgetragen und publiziert (u. a. GA 34, S. 309 f.; GA 55, S. 118 f.; GA 60, 8. Vortrag). Nach der Schulgründung 1919 wird Rudolf Steiner in wachsendem Maße aufgefordert, auch in der Schweiz, in Holland und in England über seine pädagogischen Ansätze vorzutragen.
Zusammen mit Lehrern der Waldorfschule (u. a. Caroline von Heydebrand, Hermann von Baravalle, Walter Johannes Stein, Ernst Blümel, Julie Lämmert, Karl Schubert, Erich Schwebsch) – hält er in diesen Ländern acht größere Kurse über Pädagogik; neben der Vielzahl von Vorträgen und Kursen in Deutschland dokumentiert eine Erziehungstagung im April 1924 in Stuttgart mit 1.700 Teilnehmern das wachsende öffentliche Interesse.
Zwischen 1919 und 1924 hält Rudolf Steiner insgesamt ca. 200 Vorträge für Lehrer, Eltern, pädagogisch Interessierte, schreibt eine Reihe von Aufsätzen und hält Konferenzen mit dem Kollegium der Waldorfschule (GA 296–311), die in den verschiedensten Facetten zeigen, dass es ihm nicht um ein alternatives Unterrichtssystem, sondern um Belebung der täglichen pädagogischen Praxis aus dem Verständnis für die individuelle Entwicklung der Schüler in ihrem sozial-kulturellen Umfeld und um die Steigerung der situativen geistigen Produktivität der Lehrenden aus dem Verständnis menschlicher Entwicklung geht.
Diese Darstellungen werden durch Kurse für einzelne Fachbereiche wie Sprachwissenschaft, Physik und Astronomie ergänzt (GA 299, 320, 323).