Unsere Aufgabe als Erziehende liegt vor allem darin, das in jedem Menschen verborgene, zur freien Selbstbestimmung fähige Wesen zu fördern und darum besorgt zu sein, dass es sich gesund entwickeln kann. Dazu müssen wir aber die Entwicklungsbedingungen kennen, denn in jedem Lebensalter zeigt sich dieses individuell Einmalige, das der Mensch aus einer vorgeburtlichen Welt mitbringt, in einer anderen Gestalt und muss daher anders angeregt werden.
Zimmermann, Heinz: Waldorf-Pädagogik weltweit, Hrsg: Freunde der Erziehungskunst, 2001.
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"Es ist aber das Ideal der Erziehungs- und Unterrichtspraxis, in dem Kinde den Sinn dafür zu wecken, dass es mit demselben Ernste lernt, mit dem es spielt, solange das Spielen der einzige seelische Inhalt des Lebens ist. Eine Erziehungs- und Unterrichtspraxis, welche dies durchschaut, wird der Kunst die rechte Stelle anweisen und ihrer Pflege die rechte Ausdehnung geben"
(Rudolf Steiner: Pädagogik und Kunst, in: Der Goetheanumgedanke, GA 36, S.290)
Erziehung durch Kunst
"Es gibt keinen anderen Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als dass man denselben zuvor ästhetisch macht". Schillers Briefe der ästhetischen Erziehung
Am besten untersucht und dokumentiert ist die Bedeutung der musikalischen Erziehung als Förderung der Intelligenz und namentlich der Sozialkompetenz (Ernst Waldemar Weber, Musik macht Schule, Essen 1993). In seinem viel gelesenen Buch "Emotionale Intelligenz" (München 1996) zeigt der Amerikaner Daniel Goleman eindrücklich, wie wichtig eine gründliche Erziehung des emotionalen Bereiches in unserer heutigen gewaltbereiten Gesellschaft ist. Gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit, Stilgefühl und Qualitätsempfinden, aber auch die Förderung des individuellen Ausdruckswillens sind wirksame Elemente, um die emotionale Intelligenz ausbilden zu können; und es sind Elemente, welche durch die künstlerische Betätigung entwickelt werden, auf jeder Altersstufe mit einem anderen Schwerpunkt.
Der Naturwissenschaftler Klaus Michael Meyer-Abich schreibt in einem Aufsatz: "Aesthetische Erziehung als Bildung der Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit verstanden, ist die entscheidende Voraussetzung einer wahrnehmenden Verantwortung und verantwortlichen Wahrnehmung der natürlichen Mitwelt und unserer Umwelt. Wäre unsere ästhetische Urteilskraft nicht durch die Degeneration der Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit verkümmert, hätte es nicht im heutigen Umfang zu den gewalttätigen Zerstörungen durch das Industriesystem kommen können" (Klaus Michael Meyer-Abich: Dreissig Thesen zur praktischen Naturphilosophie, in: Ethik der Wissenschaften, München 1986, S.105). Howard Gardner zeigt in seinem Buch "Abschied vom IQ" als Ergebnis seiner jahrelangen Forschungen, dass wir mit dem traditionellen Intelligenzbegriff, der mit dem Intelligenzquotienten abgestimmt wird, nicht auskommen, dass dieser der im Leben tatsächlich erforderlichen Intelligenzen keineswegs entspricht. Für ihn gehört, was sich in der Musik oder im Umgang mit dem eigenen Körper ausspricht ebenso zur Intelligenz, wie die Fähigkeit, mit sich selber und mit anderen umzugehen. Ausserdem sind die beiden letztgenannten Fähigkeiten, Selbst- und Sozialkompetenz Schlüsselqualifikationen in der heutigen Arbeitswelt (Howard Gardner, Abschied vom IQ - Die Rahmentheorien der vielfachen Intelligenzen, Stuttgart 1994.
Die Waldorfschule ist das erste Schulmodell, das solche Erkenntnisse seit Jahrzehnten konkret umzusetzen versucht.
Zimmermann, Heinz: Waldorf-Pädagogik weltweit, Hrsg: Freunde der Erziehungskunst, 2001.
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Pädagogik eine Kunstform? Der Lehrer ein Künstler? Sein Unterricht ein Kunstwerk? Die Schule ein Atelier? Steiner begriff die gesamte von ihm inspirierte neue Pädagogik als Kunst. Eine »Erziehungskunst« möge in der 1919 beginnenden Schulform um sich greifen. Mit diesem Anspruch traf Steiner bei den Pädagogen der damaligen Zeit auf Verwunderung und trifft damit auch heute noch auf Unverständnis.
... Steiner rief die Lehrer der Waldorfschule dazu auf, nicht Definitionen an die Schüler heranzutragen, sondern mit ihnen lebendige Begriffe zu entwickeln. Er schickte sie damit auf die Suche nach einer Begriffsbildung, die sich mit dem Heranwachsenden entfaltet. Dabei muss ein Lehrer in der Begegnung mit Kindern auf das Unerwartete gefasst sein. Kaum einer beschreibt dieses Wagnis besser als Pablo Picasso: »Ich suche nicht – ich finde. Suchen, das ist ein Ausgehen von alten Beständen und ein Findenwollen von bereits Bekanntem im Neuen. Finden, das ist das völlig Neue, das Neue auch in der Bewegung. Alle Wege sind offen, und was gefunden wird, ist unbekannt. Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer.
Die Ungewissheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen, die sich im Ungeborgenen geborgen wissen, die in die Ungewissheit, in die Führerlosigkeit geführt werden, die sich im Dunkeln einem unsichtbaren Stern überlassen, die sich vom Ziele ziehen lassen und nicht – menschlich beschränkt und eingeengt – das Ziel bestimmen.
Dieses Offensein für jede neue Erkenntnis, für jedes neue Erlebnis im Außen und Innen, das ist das Wesenhafte des modernen Menschen, der in aller Angst des Loslassens doch die Gnade des Gehaltenseins im Offenwerden neuer Möglichkeiten erfährt.« ...
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»Jeder Mensch ist ein Künstler. Damit sage ich nichts über die Qualität. Ich sage nur etwas über die prinzipielle Möglichkeit, die in jedem Menschen vorliegt. Das Schöpferische erkläre ich als das Künstlerische, und das ist mein Kunstbegriff.«
Nehmen wir Beuys beim Wort, so treffen in einem Klassenzimmer viele Erziehungskünstler aufeinander – zum einen der sich bewegende Lehrer, zum anderen die sich körperlich, seelisch und geistig bildenden Kinder. Der Erziehungskünstler bietet den Raum, in dem sich die schöpferischen Kräfte der Heranwachsenden entfalten können. Schiller sah im Spieltrieb die eigentlich schöpferischen Kräfte des Menschen. Beuys bezieht auf oft extreme Art den Spieltrieb in sein Schaffen ein. Er betonte in seinen Installationen und Aktionen für viele Zeitgenossen in irritierender Weise die einem Kunstwerk zu Grunde liegende Bewegung. Das Resultat erinnert im besten Falle an den vorausgegangenen Prozess. In seinen Fluxus-Aktionen ließ er Sprache, Klang und Plastik ineinanderfließen. Dadurch demonstrierte er, dass nur der sich bewegende, auf Material und Umgebung und sowohl auf äußere wie auch innere Umstände eingehende Mensch Neues hervorzubringen vermag.
Was brauchen unsere Kinder, um einmal Neues hervorbringen zu können?
Drei Voraussetzungen sind unentbehrlich: Zum einen braucht jedes Kind seine persönliche Entwicklungszeit, in der es zu sich selber findet und seine schöpferischen Kräfte entfalten kann. Zum anderen bedarf es eines unabhängigen, geschützten Raumes, eines Ateliers, in dem sich die Heranwachsenden, frei von ökonomischen Zwängen, in möglichst vielseitiger Weise ausprobieren können. Und nicht zuletzt sind Erziehungskünstler gefragt, die aufmerksam werden auf die den Kindern innewohnenden Kräfte und Impulse. Eine Pädagogik, die sich als Kunst versteht, trägt dazu bei, Ausdrucksformen zu finden für das Unbekannte und Unaussprechliche, dem die Kinder in der Welt und in sich selbst begegnen.
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Zum Autor: Ulrich Kling war als Klassen- und Musiklehrer an der Inkanyezi-Waldorfschool in Johannesburg/Südafrika und an der Freien Waldorfschule Tübingen tätig. Heute unterrichtet er an der Freien Waldorfschule in Backnang.
Literatur:
Heiner Stachelhaus: Beuys, Berlin 2006 | Hayo Düchting: Cezánne, Köln 1999 | Robert Goldwater: Gauguin, Köln 1989 | Carsten-Peter Warncke: Pablo Picasso, Köln 1991 | James Lord: Alberto Giacometti, Zürich 2004