Die Bedeutung von Rudolf Steiners Pädagogik für die Zukunft
«Ich kann nicht beurteilen, ob die Waldorfschulen die besten aller möglichen Schulen sind. Aber ich halte sie für die besten, die wir heute haben, und wünschte, sie gewännen die Zukunft.»
Diese Worte stammen von dem bekannten deutschen Pädagogen und Naturwissenschaftler Martin Wagenschein. Worauf beruht seine positive Einschätzung der Steiner-(Waldorf-)Pädagogik? Wagenscheins grösstes pädagogisches Anliegen war die Förderung des selbstständigen lebensnahen Denkens. Er sah in den Waldorfschulen eine Didaktik verwirklicht, die den Schüler als Menschen auffasst, der sich selbstständig und aktiv lebendiges Wissen über die Welt erwirbt und sich dadurch als werdende Persönlichkeit entwickelt.
Ein zentraler Punkt dabei ist, dass in einem ersten Schritt anhand von Lebenswelt- und Naturphänomenen oder von fantasievollen bildhaften Darstellungen im Unterricht emotionelle Ergriffenheit und Erstaunen geweckt werden, um bei den Schülern die eigene Entdeckerlust anzuregen.
Für einen selbstbestimmten Umgang mit der digitalen Technik
Heute, vor dem Hintergrund des digitalen Kulturwandels, kommt dieser Methode ein besonderes Gewicht, eine höchst aktuelle Bedeutung zu. Das pädagogische Ziel ist ein souveräner, selbstbestimmter kreativer Umgang mit digitaler Technik und der KI zu erlangen, um medienmündig zu werden. Es geht für die Schüler darum, zuerst einen starken Bezug zur realen Welt und zum eigenen Körper zu gewinnen und gleichzeitig vor einem frühen extensiven Medienkonsum geschützt zu werden, dann in einem zweiten Schritt die analogen Medien wie z. B. Schrift oder Bild zu beherrschen und auf der Basis dieser Fähigkeiten und Fertigkeiten die digitalen Medien bedienen und sinnvoll nutzen zu können.
Erst umfassende Körpererfahrungen, dann digitale Technik
Selbstbestimmter Umgang mit der digitalen Technik setzt selbstständige Urteilsfähigkeit voraus. Zur Ausbildung von selbstständiger Urteilsfähigkeit tragen umfassende Körpererfahrungen in der Sinnestätigkeit und in der Motorik bei. Rudolf Steiner war ein Vorreiter darin, die herausragende Rolle des Körpers für die emotionale und kognitive Entwicklung der Kinder und Jugendlichen, ja für alle Bildungsprozesse zu beschreiben. Dass Denken nicht nur mit dem Kopf, sondern im Zusammenspiel mit dem ganzen Körper stattfindet, gehört heute zum grundlegenden pädagogischen Standardwissen.
Der wissenschaftliche Leiter der sogenannten PISA-Studien, Andreas Schleicher, war in seinen ersten Schuljahren kein motivierter Schüler und hatte keine guten Lernleistungen. Dann wechselte er auf eine Hamburger Waldorfschule. Er schreibt rückblickend: «Meine Haltung zum Lernen hat sich in der Waldorfschule verändert. Ich hatte das erste Mal das Gefühl, dass sich die Lehrer dafür interessierten, wer ich bin und wer ich werden möchte.» In der Schule in den Augen mindestens eines Erwachsenen etwas zu bedeuten, hier eine vertraute, verlässliche und voraussagbare Bezugsperson – besser zwei oder drei – zu erleben, für die man wichtig ist und die einen bedingungslos gerne haben, ist die stärkste motivierende Kraft – auch für die Lernleistung.
Für ein ganzheitlicheres Lehren und Lernen
Der Astrophysiker und Wissenschaftsjournalist Harald Lesch analysierte kritisch das deutsche Bildungssystem und plädierte dafür, dass in den Schulen mehr in Zusammenhängen unterrichtet wird. Dass es nötig sei, zu grossen aktuellen Themen von vielen Fächern her zu arbeiten, dass die Schüler nicht nur über grundlegende Fähigkeiten wie Schreiben, Lesen und Rechnen verfügen sollen, sondern mit der unglaublichen Informationsmenge umgehen und die elementaren Kulturtechniken mit «grossen» Themen verbinden können.
Die Schüler müssten sich selbst und das Gelernte in natürlichen performativen Herausforderungen erproben können. Das heisst: Theater spielen, Sport treiben, Kunst und Werken praktizieren, einfach alles, wo sich eine Person in ihrem Können ausprobieren kann. Lesch plädierte also «für die Waldorfisierung der Schule».
Insofern scheinen die Waldorfschulen – um die einleitenden Worte von Martin Wagenschein aufzugreifen – das Potenzial zu haben, mit dem unabhängigen Denken, dem Denken in Zusammenhängen, dem Selbstvertrauen, der Sozialkompetenz, der Kreativität und der Initiativkraft die Zukunft zu gewinnen.
Prof. Dr. Tomáš Zdražil,
Freie Hochschule Stuttgart

«Das Denken findet nicht nur mit dem Kopf statt.»
Quellenangaben
Diese Organisationen tragen mit








