
Er hat drei Phasen der Entwicklung von der Kindheit bis zur Volljährigkeit unterschieden. In den ersten sieben Jahren entwickeln sich hauptsächlich körperliche, in den zweiten seelische und in den dritten geistige Fähigkeiten. In der Steiner-Pädagogik sind Themen, Erlebnisse und Tätigkeiten auf die Bedürfnisse in jeder dieser Entwicklungen abgestimmt:
Entscheidend sind unsere Sinne
Dass die Entwicklung des Kindes unmittelbar mit der Entwicklung seiner Sinne einhergeht, ist in Pädagogik und Therapie bekannt. Die tiefen sensiblen Wahrnehmungen des kleinen Kindes als Voraussetzung für das spätere Lernen sind wissenschaftlich zwar erforscht, in der Praxis jedoch kaum berücksichtigt. Verpasste Sinnesentwicklungen in der frühen Kindheit bedürfen oft der mühsamen Nachentfaltung im späteren Lebensalter. Mit zunehmender Digitalisierung verstärkt sich der Mangel an Sinneserfahrungen, was verheerende Folgen für die Entwicklung und das spätere Leben haben kann. Die von Rudolf Steiner entwickelte Sinneslehre besitzt heute eine hohe Aktualität und ist eine wichtige Grundlage für Pädagogik und Erziehung.
Wie nimmt ein Kind die Welt wahr?
Zunächst geschieht das nur unscharf. Im Falle des Auges ist es zum Beispiel nur eine Hell-Dunkel-Wahrnehmung. In den ersten Wochen bilden sich dann die Netzhautzellen aus und das Kind kann Objekte erkennen. Das gilt nicht nur für den Sehsinn: Alle Sinnesorgane bedürfen der Entwicklung, und der wichtigste Zeitraum dafür liegt am Lebensanfang.
Dabei zeigt uns das Kind wenige Wochen nach der Geburt erstaunliche Fähigkeiten: Es kann die Mimik der Erwachsenen implizit imitieren. Wird es angelächelt, lächelt es zurück. Sehen Neugeborene ein griesgrämiges Gesicht, so verziehen sie ebenfalls die Mundwinkel. Das Neugeborene nimmt die Erwachsenen nicht als Gegenüber wahr, so der Gehirnforscher Thomas Fuchs 11), sondern mimisch, indem es das Gegenüber leiblich in sich nachbildet.
Diese Art der Wahrnehmung, die gleichzeitig eine Eigenwahrnehmung ist, ist die Fähigkeit des Menschen, durch die Sinneswahrnehmungen körperlich umzusetzen, was sich in der Umgebung abspielt. Dieser Vorgang ist gerade für die Bewegungsentwicklung und den Erwerb des aufrechten Gangs des Menschen von hoher Bedeutung. Eigenwahrnehmung ist die Voraussetzung dafür, sich der Welt zu öffnen und sich zu orientieren. Die Welt und alles, was die Erwachsenen denken, fühlen und tun, «durchrieselt» das Kind, denn es kann sich noch nicht «abgrenzen». Mit jedem Eindruck allerdings bildet sich ein Stückchen Innenwelt in Abgrenzung zur Aussenwelt. Das Kind bringt die Fähigkeit zur Resonanzbildung mit sich, in ihm klingen alle Sinneswahrnehmungen nach, und stufenweise bildet sich sein Selbstgefühl aus.
«Das Kind ist im allerhöchsten Grade seinem ganzen Wesen nach in dieser ersten Zeit ein Sinneswesen. Es ist wie ein Sinnesorgan », so Rudolf Steiner 1924 12). Viele Jahre hat er an dem Rätsel der Sinne geforscht, wobei er die gängige Erkenntnis der fünf Sinne mit der Beschreibung von sieben weiteren bisher unbeachteten ergänzt hat. Die Pflege dieser zwölf Sinne während Kindheit und Jugend nimmt eine wesentliche Stellung in seiner Pädagogik ein, da diese die Grundlage bilden, dass der Mensch seinen Körper als Instrument für seelische und geistige Aktivitäten in gesunder Weise benützen kann.
Die drei Phasen der Entwicklung
Er hat drei Phasen der Entwicklung von der Kindheit bis zur Volljährigkeit unterschieden. In den ersten sieben Jahren entwickeln sich hauptsächlich körperliche, in den zweiten seelische und in den dritten geistige Fähigkeiten. In der Steiner-Pädagogik sind Themen, Erlebnisse und Tätigkeiten auf die Bedürfnisse in jeder dieser Entwicklungen abgestimmt:
Die folgenden vier Sinne spielen vor allem in den ersten sieben Jahren des Lebens eine wesentliche Rolle. Deren differenzierte Pflege trägt dazu bei, dass der erwachsene Mensch gesund und mit allen Sinnen im Leben stehen kann.
Ein grundlegender Sinn, der erst in jüngster Zeit eine wissenschaftliche Bedeutung gewonnen hat, ist der Tastsinn. Er entwickelt sich bereits ab der achten Schwangerschaftswoche. Alles was das Kind ertastet in seinem Spiel, durch seine Bewegungen, durch das Berührtwerden von den nahen Menschen mit einer «sanften Bestimmtheit», mit Ruhe und Zeit, ist für die Entwicklung des Tastsinns ausserordentlich wichtig. Wenn es gelingt, dem Tastsinn genügend Aufmerksamkeit zu geben, wird das Kind sich als ein Ganzes und als «richtig» auf der Erde empfinden. Jede Berührung schafft Grenze und damit auch Verbindung. Der Tastsinn vermittelt Wirklichkeit und das Durchdrungensein von Sinnhaftigkeit. Er bildet auf dieser Basis die Grundlage für das spätere Selbstbewusstsein.
Der Lebenssinn, auch Vitalsinn genannt, dient wesentlich unserer eigenen körperlichen Empfindung und ermöglicht die Wahrnehmung derselben. Ist es doch ein grosser Unterschied, ob man Behaglichkeit und Wohlgefühl oder aber Unwohlsein spürt. Eine Umgebung, die dem Kind Behaglichkeit und Wohlgefühl ermöglicht, sorgt für eine lebensbejahende Grundhaltung von Sinn und erzeugt Resilienz.
Die Muskeln sind das Organ des Eigenbewegungssinns. Dieser Sinn nimmt jede Bewegung, die Dehnung und das Zusammenziehen der Muskeln wahr. Kinder, die in Eigenaktivität, in freier Bewegung und im Spiel selber entdecken, wie man sich je nach Anforderungen bewegen muss, gehen gestärkt und voll Tatendrang ins Leben. Freude an der Bewegung schafft die Grundlage für die Empfindung der seelischen Autonomie. Die Wahrnehmung der Eigenbewegung stärkt den Willen und die Nachahmungsfähigkeit. Jede äussere Hilfe in der Bewegungsentwicklung hingegen schwächt den Willen.
Das Organ des Gleichgewichtssinns liegt im Innenohr. Er ermöglicht Orientierung im Raum, den aufrechten Gang und innere Zentrierung in Bezug zur Schwerkraft. Kinder, die wippen, balancieren oder hüpfen, bilden ein inneres konzentriertes Zentrum als Voraussetzung, um sich der Umgebung offen zuzuwenden und sich später als «freier Geist» zu fühlen.
Die zwölf Sinne ganz konkret
Zu den weiteren allgemein bekannten Sinnen – Geruchsinn, Geschmackssinn, Sehsinn und Hörsinn – fügt Rudolf Steiner hinzu: die Beschreibung vom Wärmesinn, der die Temperaturdifferenzen spüren lässt; den Sprachsinn, der ermöglicht, Worte von Geräuschen zu unterscheiden und zu verstehen; den Gedankensinn, der uns befähigt, Gedanken anderer Menschen wahrzunehmen, nicht nur durch Worte, sondern auch durch Gestik oder Mimik; und den Ichsinn, der uns hilft, den anderen Menschen als einzigartige Person wahrzunehmen, sodass wir in eine Beziehung «auf Augenhöhe» treten können. «Ich werde gesehen, also bin ich». Dieser Sinn ist sowohl für die frühe Bindung als auch für das soziale Leben entscheidend.
Die Erkenntnis der zwölf Sinne ist kein theoretisches Konzept, sondern eine konkrete Hilfe im pädagogischen Tun für alle Altersstufen und darüber hinaus für die Selbstschulung im Erwachsenenleben.
Claudia Grah-Wittich,
Co-Autorin des Buches «Vor allem Sinne» 13)

Zwölf Sinne – eine originäre Entdeckung Rudolf Steiners, die Selbst- und Welterkenntnis aufeinander bezieht. Eine Grundlage für Pädagogik und Erziehung.
Quellenangaben
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