Lebensanfang und Lebensende: Woher kommen wir? Wohin gehen wir?
Geburt und Tod stellen Fragen nach dem Wesen des Menschen, nach seinem «Woher komme ich?» und «Wohin gehe ich?». Gegenwärtig scheinen sich diese beiden existenziellen Fragen einfach zu beantworten: Konzeption bzw. Geburt und Tod umgrenzen eine Lebenszeit ohne ein Woher und Wohin. Diese oft als «Realismus» bezeichnete Einstellung relativiert sich durch die zahlreichen Erfahrungen, die Menschen im Umkreis des Sterbens, aber auch als glückliche Eltern im Zusammenhang mit der Geburt des Kindes erleben. Eine Angehörige eines Verstorbenen sagte einmal: «Auch wenn ich an das Weiterleben des Menschen nach seinem Tod glaube, so habe ich doch immer wieder Zweifel. Ich staune allerdings über die Glaubensfestigkeit der ‹Realisten›, die noch nicht einmal an ihrer Überzeugung von der Endlichkeit des Menschen zweifeln.» Um dem Menschen würdevoll zu begegnen, braucht es also Unvoreingenommenheit und Offenheit, um Erfahrungen zu teilen, die von einer Nachtodlichkeit sprechen und auch von einer Vorgeburtlichkeit berichten. Der bekannte Chirurg und Entdecker der Infiltrationsanästhesie Carl Ludwig Schleich (1859–1922) – ein Zeitgenosse Rudolf Steiners – sprach im Hinblick auf das Woher und Wohin der Kinder in einem kleinen Gedicht von zwei «verhüllten Zeiten»:
«Zwischen zwei verhüllten Zeiten
Steht die junge Gegenwart
Kinder sind Unsterblichkeiten
Die die Liebe offenbart.»
Fragen nach diesen verhüllten Zeiten, also dem Woher und Wohin werden oft als «philosophisch» und vom praktischen Leben entfernt erlebt. Herausfordernde Lebenssituationen machen demgegenüber deutlich, wie von diesen Perspektiven ethische Entscheidungen, Sinnfindungen in der Biografie, Fragen des eigenen Selbstverständnisses und der Menschenwürde abhängen.
Vom Abschied: die Begleitung der Sterbenden
Welche Botschaften gibt uns die Begleitung des sterbenden Menschen? Was lässt sich hier «enthüllen»? Oftmals sind es die Lebenden, die den Sterbenden die Augen schliessen, wie gerade diese den Lebenden die Augen öffnen können für die entscheidenden Entwicklungen in der Sterbephase und darüber hinaus – so sagt es ein oft gebrauchtes Sprichwort. In der Palliativmedizin kennen wir die Herausforderungen des Sterbens, aber auch das «innere Wachstum» der Patienten: In ihrem Blick und ihren Worten werden immer wieder die durchlebten und durchlittenen Lebenserfahrungen erfahrbar. Wissen hat sich in Weisheit gewandelt und kann nun Lebenszusammenhänge erhellen und als ein gereiftes Licht von Mensch zu Mensch strahlen. Aber auch die zwischenmenschlichen Beziehungen bekommen oftmals eine andere Qualität: Wenn wir als Begleitende erfahren, wie ein Freund dem Sterbenden seinen letzten Abschiedsgruss sagt, so wird unmittelbar die verbindende Liebe spürbar. Neben dem gereiften Licht können also auch Wärme und Liebe ausstrahlen. Und schliesslich sind es gerade die Sterbenden, die eine entscheidende Wirksamkeit für den Menschenumkreis haben und dessen Leben vertiefen. Viele Patientinnen und Patienten haben von entscheidenden und das Leben prägenden Inspirationen berichtet, die sie ihren verstorbenen Angehörigen verdanken. «Ich konnte meine verstorbene Mutter immer um Rat fragen und sie hat geantwortet», berichtete ein Patient mit Prostatakarzinom. Damit begegnen wir im Umkreis des Sterbens einem ausstrahlenden Licht, oftmals Liebe und Dankbarkeit und schliesslich immer wieder einer Zuversicht in das Leben und seine Sinnhaftigkeit.
Inzwischen berichten viele Menschen über ihre spirituellen Erfahrungen im Umkreis des Sterbens. Wir kennen die sogenannte Sterbebettvisionen, die so überraschende «terminale Geistesklarheit» bei vorher «dementen» Patientinnen und seit Jahrhunderten die Nahtoderfahrungen (die aber nicht nur in Todesnähe auftreten). Sterbende erfahren die Begegnung mit einem strahlenden Licht und berichten oftmals von dessen tiefer Liebe und wesenhaft erlebter Güte. Auch das ägyptische Totenbuch wird treffender als «Eintreten in das Licht» bezeichnet. Ein in unserem Hospiz begleiteter Sterbender sagte unmittelbar vor seinem Tod: «Ich sehe Licht, ich bin ganz Licht». Dieses Licht wirft keine Schatten, vielmehr umfängt es die Sterbenden mit einer umfassenden Liebe. Die Nahtoderfahrenen verlieren vollständig ihre Angst vor dem Tod, gewinnen eine innere Überzeugung für die Bedeutung des verkörperten Lebens, das keinen manipulativen, lebensverkürzenden Eingriff duldet, und ein unmittelbares Wissen von einer Daseinsform nach dem Tod.
In kurzen Worten zusammengefasst: Licht, Liebe und Leben sind gewissermassen die «Heiligen Drei Könige» in der Beziehung zum anderen und besonders dem kranken bzw. sterbenden Menschen. Wir erfahren sie eindringlich an der Schwelle des Todes und gleichermassen auch als persönliche Entwicklungsziele, die aus den engen Bedingtheiten unseres Lebens befreien und zur (Mit-)Menschlichkeit entwickeln.
Vom Ankommen: Erinnerungen an die Vorgeburtlichkeit
Licht, Liebe und die Orientierung zum Leben begleiten aber auch die andere «verhüllte Schwelle» unserer Biografie, die Geburt: Ein neues Leben beginnt und kann sprichwörtlich das Licht der Welt erblicken. Aus dem Dunkel der embryonalen Entwicklung, in der vieles gehört, aber noch nicht gesehen wird, öffnen sich die Augen für das Licht des Tages. Und auch die Liebe zum Kind entwickelt sich oftmals bereits in der Schwangerschaft und im Umkreis der Geburt. Manche Mütter berichten von einem Erleben des kommenden Kindes im Vorgeburtlichen, manchmal auch seinen Namen. Schon früh entzündet sich dann die Liebe zum werdenden Menschen. Und schliesslich beginnt mit der Geburt ein neues Leben auf der Erde. Licht, Liebe und Leben sind auch mit der anderen Schwelle des Lebens, der Geburt verbunden; sie leben aber auch in den spirituellen Erfahrungen der Kinder.
So kennen wir zwischenzeitlich nicht nur die Nahtoderfahrungen des erwachsenen Menschen, sondern auch diejenigen von Kindern mit Erinnerungen an ein Leben vor der Geburt, an das «Woher». So erzählte ein dreijähriges Kind seiner Mutter: «Ich war schon einmal bei dir und konnte nicht bei euch bleiben». Die Mutter hatte drei Jahre zuvor Zwillinge geboren, einer starb bereits drei Tage nach der Geburt und nur ein Kind überlebte. Die Mitteilungen von kindlichen Nahtoderfahrungen mit Erinnerungen an die Vorgeburtlichkeit sind zahlreich.
Aus dem Umkreis kommen – in den Umkreis gehen
So gegensätzlich Geburt und Tod sich gegenüberstehen, so vieles haben sie auch gemeinsam. Wenn ein Kind geboren wird, so sterben im selben Moment die vier embryonalen Hüllen, die es vorgeburtlich umgeben haben. Die Nachgeburt ist in diesem Sinne der «erste Leichnam» des Menschen, den er bei der Geburt verlässt. Umgekehrt sehen wir am anderen Ende des Lebens den sterbenden Leib und werden aber auch Zeuge einer inneren Geburt, die sich durch die persönlichen Entwicklungsschritte andeutet. In jeder Geburt findet sich ein Sterben, in jedem Sterben vollzieht sich auch eine Geburt: «Wenn ein Geist stirbt, wird er Mensch, wenn der Mensch stirbt, wird er Geist», formulierte es Novalis. Einer feineren Beobachtung wird es nicht entgehen, dass das kindliche Wesen aus dem «Umkreis» kommt und sich mit seinem Leib verbindet. Bereits die Embryologie beginnt mit den Hüllorganen im Umkreis und lässt erst nachfolgend die Leibesanlage «im Zentrum» entstehen. Beim Neugeborenen können wir sein Wesen wie raumerfüllend und noch nicht in den Leib eingezogen erleben. Aber auch beim sterbenden Menschen kennen wir diese Umkreisbeziehung: Manchmal scheint sein Wesen wie in die Ferne zu blicken und mehr im Umkreis als bei sich selbst zu sein. Das Woher und Wohin des Menschen hat Entwicklungsrichtungen und kommt mit der Geburt aus dem Umkreis und entwickelt sich mit dem Sterben ihm wiederum entgegen.
Nachtodlichkeit und Vorgeburtlichkeit
Carl Friedrich von Weizsäcker sprach von den vielen Toden und Geburten in der Biografie des Menschen: Eine Lebensphase – wie zum Beispiel die Kindheit – geht zu Ende, «stirbt» und ein neuer Abschnitt der Biografie wird «geboren». Das Motiv von Sterben und neuer Geburt durchzieht den Lebenslauf des Menschen und kennt in den verschiedenen Lebensphasen jeweils sowohl eine biografische «Vorgeburtlichkeit» als auch «Nachtodlichkeit». Ebenso werden wir in jeden neuen Tag unseres Lebens geboren und verlassen ihn mit dem abendlichen Einschlafen, um einem neuen entgegenzugehen. Goethe erweitert diesen Gesichtspunkt und schreibt: «Des Menschen Seele gleicht dem Wasser, vom Himmel kommt es, zum Himmel steigt es, und wieder nieder zur Erde muss es, ewig wechselnd». Vielleicht ist es diese Botschaft, für die uns die Sterbenden und gleichermassen neu Geborenen die Augen öffnen wollen, und die von den sonst verhüllten Zeiten der Biografie des Menschen, seiner Vorgeburtlichkeit und Nachtodlichkeit, spricht.
Dr. Matthias Girke,
Innere Medizin, Palliativmedizin, Diabetologe MVZ
Anthromed Havelhöhe Berlin

«Wenn der Tod etwas Schreckhaftes haben kann, so ist es nur deshalb, weil er hier gesehen wird als eine Auflösung gewissermassen, als ein Ende. Von der anderen Seite, von der geistigen Seite her, … erscheint er als das grösste, herrlichste, als das bedeutsamste Ereignis … Es entzündet sich an diesem, was unser Ich-Bewusstsein nach dem Tode ist.» Rudolf Steiner
Quellenangaben
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